Christoph Quarch

Impfchaos?

Der große Hoffnungsanker Impfung droht zum Stolperstein zu werden. Für unseren Philosophen Christoph Quarch kommt das nicht überraschend.

Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will: Der lange herbeigesehnte Start zum großen Impfen ist in Deutschland gründlich schiefgegangen. Schon macht das Wort vom Impfchaos die Rede – und schon fliegen die Beschuldigungen hin und her. Die Nerven der Verantwortlichen scheinen reichlich blank zu liegen – so blank, dass jetzt sogar der Bundesfinanzminister auf den Bundesgesundheitsminister losgeht und damit einen handfesten Krach in der Regierungskoalition in Kauf nimmt. Der große Hoffnungsanker Impfung droht zum Stolperstein zu werden. Für unseren Philosophen Christoph Quarch kommt das nicht überraschend.
 
Herr Quarch, war das Impfchaos vorhersehbar?
Dass der Start der Impfkampagne holprig werden würde, konnte man sich ausrechnen. © Alexandra Koch, pixabay.comVorhersehbar wäre vielleicht zu viel gesagt. Aber dass der Start der Impfkampagne holprig werden würde, konnte man sich ausrechnen. In meinen Augen liegt das Hauptproblem darin, dass die Verantwortlichen – und das sind die Bundesregierung und ihre Berater von der Leopoldina – meines Erachtens die falschen Prioritäten gesetzt haben. Es war keine gute Idee, zunächst die Risikogruppe der Alten und Pflegebedürftigen zu impfen. Für diese Impfungen braucht man mobile Teams die sich in die derzeitigen Hotspots des Infektionsgeschehens begeben müssen. Das ist mühsam, kostet Zeit und bringt zunächst mal recht wenig. Viel sinnvoller wäre es gewesen, mit Volldampf zunächst alle zu impfen, die an der Covid-Front arbeiten: medizinisches Personal, Pflegepersonal, Rettungsdienste. Genügend Impfstoff ist vorhanden. Die Betroffenen sind gut mobilisierbar. Alles wäre viel einfacher.

Aber es muss doch zunächst mal darum gehen, die am meisten gefährdeten Menschen zu schützen. Und das sind nun mal die Alten.
So zu denken ist ehrenwert, aber nicht klug. In Notfällen sollte die Priorität immer darauf liegen, die zu schützen, die andere retten können. Wir haben es zigmal im Flugzeug gehört: Bei Druckabfall in der Kabine erst die eigene Atemmaske aufsetzen, dann Kindern und Hilfsbedürftigen beistehen. Das ist die vernünftige Reihenfolge, denn – man muss die Dinge manchmal so klar benennen – in Notsituationen sind diejenigen, die viele andere retten können, wichtiger als das einzelne Leben eines Hochbetagten. Von daher war für mich auch völlig unbegreiflich, wie man die symbolträchtige erste Impfung ausgerechnet einer 103jährigen verabreichen konnte. Wie mögen sich da die vielen Pflegerinnen und Pfleger gefühlt haben, die täglich Dutzende kranker Menschen betreuen? Andere Länder habe das besser gemacht, wenn sie als erstes Krankenpfleger und Ärztinnen impften.

Aber sie können doch nicht den Ältesten die Impfungen vorenthalten, wenn in diesen Tagen Hunderte von ihnen an oder mit Covid sterben.
Hier geht es um etwas sehr Grundsätzliches, das zu bedenken wir uns fast immer scheuen: das Verhältnis des Einzelnen zum Gemeinwesen im Ganzen. Wir haben uns in Deutschland – aus verständlichen Gründen – angewöhnt, das einzelnen Subjekt mit einem höheren Wert zu besetzen als das Kollektiv. Diese Denkweise verleitet uns dazu, als erstes die am meisten bedrohten Subjekte schützen zu wollen – ohne dabei zu bedenken, was für die Funktionalität und den Bestand der Gesellschaft die beste Lösung wäre. Und das wäre nach Maßgabe der praktischen Vernunft das konsequente Durchimpfen aller, die für das Gemeinwesen arbeiten und dabei schon seit Monaten große Opfer bringen: dabei denke ich nicht nur an das medizinische Personal, sondern zum Beispiel auch an Lehrerinnen und Lehrer. Für die Zukunft unserer Gesellschaft ist es von größter Bedeutung, dass die Schulen arbeiten. 

Sie würden also ernsthaft dafür plädieren, die Funktionalität des Gemeinwesens vor den Schutz der Einzelnen zu stellen?
Den Hilfsbedürftigen den Vorzug geben, scheint moralisch gerechtfertigt zu sein. Tatsächlich will niemand gerne die Verantwortung dafür übernehmen, dass alte Menschen an Covid sterben, während die ersten Impfdosen an das Pflegepersonal vergeben werden. Aber das systemische Denken kann in Ausnahmesituationen gebieten, den Bestand des Ganzen an erste Stelle zu setzen. Im Übrigen werden im Lockdown mit der gleichen Begründung von Millionen Menschen große Opfer verlangt. Das eigentlich Beklagenswerte beim jetzigen Impfgerangel ist jedoch, dass wir überhaupt in diese Situation gekommen sind und es nicht geschafft haben, die Gefährdetsten schon viel früher zu schützen – etwa durch die Vergabe von Schutzmasken schon im Sommer oder den konsequenten Einsatz von Schnelltests in Einrichtungen. Der holprige Impfstart ist die Konsequenz aus zu viel Tatenlosigkeit der letzten Monate.
 

Der Philosoph Christoph Quarch schreibt regelmäßig für forum Nachhaltig Wirtschaften. © Christoph Quarch
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."

Hören Sie ihn persönlich im SWR-Podcast Frühstücks-QuarchLesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
 
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".

Weitere Artikel von Christoph Quarch:

Zeit - Ressource oder Kostenfaktor
Christoph Quarchs philosophischer Blick auf Reformstau und notwendige Investitionen in Infrastruktur und Innovationen
Diese Woche wird nach fünfzehn Wochen Vollsperrung der Mont-Blanc-Tunnel wieder freigegeben. Damit ist rechtzeitig zum Winterbeginn eine der wichtigsten Alpenverbindungen wieder passierbar. Aber das wird sich bald schon wieder ändern, denn die Sanierungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen.


Großzügigkeit und Wohlwollen
Christoph Quarch wünscht sich einen Relaunch des Nikolaus-Festes
Alle Jahre wieder... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der Nikolaus. Am 6. Dezember ist es wieder so weit. Vielerorts finden die Kinder dann in ihren eigens vor der Tür deponierten Schuhen kleine Geschenke, und in den Kitas und Kindergärten tummeln sich zumeist rot kostümierte, bärtige Gestalten, die den Kids kleine Präsente überreichen. Was es ursprünglich mit dem Nikolausfest auf sich hat, wissen allerdings nur noch die wenigsten.


"Du sollst konsumieren!"
Für Christoph Quarch ist der Black Friday ein schwarzer Tag
Wenn der Dezember naht, beginnt die schwarze Zeit. Nein, nicht von den trüben ersten Wintertage ist die Rede, sondern von der Black Week, der Woche vor dem Black Friday, in der all überall die Preise purzeln und die Konsumenten darauf hoffen, rechtzeitig vor Weihnachten noch das eine oder andere Schnäppchen zu ergattern.


Selbstgewählte Einsamkeit
Christoph Quarch analysiert den Trend und empfiehlt, Komfortzonen zu verlassen
In dieser Woche sprechen wir über das Thema Einsamkeit. Ein Aspekt, der dabei noch nicht so viel Beachtung gefunden hat, ist die selbstgewählte Einsamkeit bzw. das selbstgewählte Allein-Sein. Und das liegt im Trend: Jüngsten Erhebungen zufolge legen vor allem ältere Frauen immer weniger Wert auf ein Leben zu zweit.


Wenn Klimaschutz nur der Ökonomie schadet...
Christoph Quarchs Überlegungen zur Generationengerechtigkeit
In Belém tagt seit Montag die Weltklimakonferenz COP30. Bei ihren Eröffnungsreden waren sich alle Sprecher einig: Unternimmt die Weltgemeinschaft nicht mehr als bisher gegen den Klimawandel, gerät unser Überleben auf diesem Planeten immer mehr in Gefahr. Ob die angereisten Vertreter und Repräsentanten aus über 190 Ländern zu konstruktiven Ergebnissen kommen, ist allerdings fraglich.




     
        
Cover des aktuellen Hefts

forum future economy

forum Nachhaltig Wirtschaften heißt jetzt forum future economy.

  • Zukunft bauen
  • Frieden kultivieren
  • Moor rockt!
Weiterlesen...
Kaufen...
Abonnieren...
17
DEZ
2025
Lunch & Learn: Geschichten & Inspirationen zum Mitmachen
Impulse: Katrin Hansmeier, Basil Merk, Tina Teucher
online
17
JAN
2026
INNATEX
Internationale Fachmesse für nachhaltige Textilien
65719 Hofheim-Wallau
05
FEB
2026
Konferenz des guten Wirtschaftens 2026
Veränderung willkommen? Wie Wandel gelingen kann
90475 Nürnberg
Alle Veranstaltungen...
Anzeige

Professionelle Klimabilanz, einfach selbst gemacht

Einfache Klimabilanzierung und glaubhafte Nachhaltigkeitskommunikation gemäß GHG-Protocol

Megatrends

Deutsche Einheit - deutsche Identität(en)
Christoph Quarch sieht die Zukunft in der Stärkung individueller Identitäten im Dialog mit anderen
B.A.U.M. Insights
Hier könnte Ihre Werbung stehen! Gerne unterbreiten wir Ihnen ein Angebot

Jetzt auf forum:

FNG-Siegel: 25 Fonds der Erste Asset Management mit Bestnote ausgezeichnet

Vom Öko-Pionier zum chinesischen Familienalltag: SODASAN und Stakunft Home gestalten nachhaltiges Wohnen

So klappt's mit den Weihnachtsgeschenken – ohne Stress und Schulden

Deutschland hat kein Geldproblem, Deutschland hat ein Skill-Problem

Zuversicht und Inspiration schenken

Landesinnungsverband des Maler- und Lackiererhandwerks Berlin-Brandenburg und Zentek halten Kunststoffeimer im Kreislauf

Ab 14.12.2025 gilt der neue Fahrplan der Deutschen Bahn für 2026

Wie verbessern Skibrillen die Sicht und Sicherheit auf den Pisten

  • NOW Partners Foundation
  • Engagement Global gGmbH
  • circulee GmbH
  • DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen
  • Futouris - Tourismus. Gemeinsam. Zukunftsfähig
  • Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. (BNW)
  • Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG
  • Global Nature Fund (GNF)
  • toom Baumarkt GmbH
  • World Future Council. Stimme zukünftiger Generationen
  • BAUM e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften
  • TÜV SÜD Akademie
  • Protect the Planet. Gesellschaft für ökologischen Aufbruch gGmbH