Der Pionier der öko-sozialen Agrarkultur
Schafft er die Agrarwende?
„Auf dem Bio-Bauernhof bei der Stallarbeit anpacken, mit den Kühen nonverbal kommunizieren, in den Sog ihrer Gleichmut geraten, aber auch ins Kräftemessen gehen, wenn sie dich beim Melken an die Wand drücken. Oder Stier Manfred in seiner unruhigen Ruhe wahrnehmen, das sind unmittelbare Erfahrungen der Lebendigkeit," erzählt Franz-Theo Gottwald im Gespräch mit forum nachhaltig Wirtschaften, um gleich zum nächsten Wirkungsfeld überzuleiten: „An diese Lebendigkeit und die Rückkopplung an das Ursprüngliche gilt es bei der Umsetzung der Agrarwende anzuknüpfen. Das Erleben der wechselseitigen Verbundenheit gibt Impulse und öffnet Denk- und Handlungsräume. Diese sind dringend nötig, um eine zukunftsfähige Land- und Lebensmittelwirtschaft co-kreativ und innovativ zu realisieren."
Herr Gottwald, was bedeutet ganzheitlicher Mitweltschutz und worin unterscheidet sich die öko-soziale Agrarkultur von der industriellen Landwirtschaft?
Ich will die Antwort mit den zentralen Aussagen von zwei Büchern geben, die mich stark geprägt haben. 1982 erschien „Die erwachende Erde" des englischen Mathematikers und Bewusstseinsforschers Peter Russell. Seine Einsichten darüber, dass alle Lebensformen auf dem Planeten Erde zusammenwirken, um co-kreativ eine gemeinsame Sozio- und Biosphäre zu gestalten, beschreiben meine Haltung allem Lebendigen gegenüber und sind die Grundlage für einen ganzheitlichen Mitweltschutz. Das 1984 erschienene Buch „Wege zum Frieden mit der Natur" des deutschen Physikers und Naturphilosophen Klaus Michael Meyer-Abich eröffnete mir den Ansatz einer postfossilen und Postwachstumswirtschaft. Dies bestärkte meine Abkehr von dem Einsatz fossiler und synthetischer Dünge- und Pflanzenschutzmittel sowie die Auseinandersetzung mit dem Irrglauben, allein Betriebsgröße und Ertragssteigerung würden die Landwirtschaft zukunftsfähig machen. Neue Handlungsansätze stehen seither für mich im Zentrum einer öko-sozialen Agrarkultur.
„Es ist ein Irrglaube, allein Betriebsgröße und Ertragssteigerung würden die Landwirtschaft zukunftsfähig machen."
Sie beschreiben Zukunftsvisionen aus den 80iger Jahren. Haben diese den Nachhaltigkeitsdiskurs bis heute geprägt?
Ja, bereits 1986 haben wir das in der Stiftung gemeinsam mit Vordenkern wie dem Systemforscher Frederik Vester entwickelte Leitbild der öko-sozialen Agrarkultur in die gesellschaftliche und politische Diskussion eingebracht. Es gab damals wenige Quellen, der Biolandbau war organisatorisch und publizistisch in der Pionierphase, viele wissenschaftliche Fragen zur Agrarökologie, zur guten und zukunftsfähigen Haltung agrarisch genutzter Tiere, zu einer ganzheitlichen Bewirtschaftung ökologischer Betriebe waren offen. Deshalb habe ich Agrarkultur als übergeordneten Rahmen definiert, in dem die Entwicklung einer ökologisch zuträglichen, sozial verträglichen und ökonomisch belastbaren – heute würde man sagen: enkeltauglichen – komplexen Land- und Lebensmittelwirtschaft in regionalen Kreisläufen stattfindet. Es ist ein Leitbild für eine systemische Alternative, in der Essen und Trinken entlang der Wertschöpfungsketten neu organisiert werden. Auf jeder Stufe steht im Mittelpunkt, die Lebendigkeit zu fördern, Leben während des Nutzens zu schützen, verantwortbar zu handeln.
Und wie wurde das praktisch umgesetzt?
Karl-Ludwig Schweisfurth ist bereits Ende der 80iger Jahre in die Erprobung und Umsetzung des Leitbildes gegangen. Mit dem Aufbau der Herrmannsdorfer Landwerkstätten im Osten Münchens, also einer Bio-Landwirtschaft in Verbindung mit der handwerklichen Lebensmittel-Verarbeitung, ist er konsequent den Weg einer regionalen Vermarktung gegangen. Bis heute sind diese Landwerkstätten ein Vorzeigebetrieb, der international Anerkennung bekommt – beispielsweise ganz aktuell durch den Besuch von Prinz Charles und Herzogin Camilla im Mai 2019 oder durch internationale Besuchergruppen, die sich hier inspirieren lassen.
Wo steht die Land- und Lebensmittelwirtschaft nach über 30 Jahren Diskussion und Erprobung neuer Wege?
Im Grundsatz hat das Leitbild bis heute Bestand. Selbstverständlich arbeiten wir kontinuierlich an seiner Weiterentwicklung. So konnte ich zum Beispiel 2007 mit dem ehemaligen EU-Agrarkommissar Franz Fischler eine Aktualisierung vornehmen. In unserem Buch „Ernährung sichern" haben wir das Konzept einer multifunktionalen Land- und Lebensmittelwirtschaft auch mit Bezug auf seine öko-sozialen Wirkungen im globalen Maßstab reflektiert.
Braucht es in Zeiten der Erderwärmung und ihrer dramatischen Auswirkungen auf die Landwirtschaft eine weltweite Agrarkultur 2.0?
Wir haben die Perspektive des globalen Südens und des wachsenden Bedarfs an Nahrung in Südostasien eingenommen und mit Rückgriff auf viele wissenschaftlich belastbare Daten nachgewiesen, dass eine ökologische Ernährung „vom Acker auf den Teller" im Weltmaßstab nicht nur notwendig ist, sondern auch ginge – wenn denn der politische Wille zur Gestaltung in der Weltgemeinschaft dafür mobilisiert werden kann.
Kann die Generation Fridays for Future der öko-sozialen Agrarkultur in der Breite zum Durchbruch helfen?
Ich hoffe sehr und arbeite derzeit zusammen mit Prof. Franz Josef Rademacher, dem Vordenker für eine öko-soziale Marktwirtschaft, und mit Jan Plagge, dem IFOAM-EU Präsidenten (Internationale Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen), an einem Buch mit dem Titel „Klimapositive Landwirtschaft geht!"
Sie sprachen Eingangs von Co-Kreativität. Was genau meinen Sie damit?
Damit wir die Agrarwende endlich in der Breite vollziehen, sind Forderungen wie sie die Generation Fridays for Future erheben, wichtig. Genauso wichtig ist, dass wir Netzwerke bilden, dass Unternehmen, Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und so Kräfte zur Umsetzung mobilisieren. Menschen zusammenbringen, Brücken bauen ist eine meiner Stärken, die ich in der Stiftungsarbeit nutze. So haben wir zum Beispiel zusammen mit dem Deutschen Tierschutzbund, mit der Verbraucherzentrale Bundesverband und dem Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland eine „Allianz für Tiere in der Landwirtschaft" gebildet, die die Tierwohldebatte in Deutschland stark gemacht hat: Themen wie ein einheitliches Tierwohlsiegel, Stallbau TÜV und Innovationen in der Tierhaltung zum Wohl der Nutztiere sind über lange Zeit mit dieser Allianz nach vorne gebracht worden. Derzeit wirke ich als Aufsichtsratsvorsitzender bei der Stiftung des World Future Council daran mit, dass weltweit beste nationale Politiken für Agrarökologie, Kleinbauernschutz und Ernährungssouveränität durchgesetzt werden, wie zum Beispiel in Sikkim, wo ein ganzes indisches Bundesland nur noch ökologisch wirtschaftet.
„Wir haben eine 'Allianz für Tiere in der Landwirtschaft' gebildet, die die Tierwohldebatte in Deutschland stark gemacht hat."
Und in Ihrem Heimatland, dem Freistaat Bayern, was tun Sie dort?
Gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium und den Verbänden des Lebensmittelhandwerks haben wir den Verein Kulinarisches Erbe Bayern ins Leben gerufen. Ziel ist die Förderung der regionalen Land- und Lebensmittelwirtschaft. Traditionelle Rezepte und regionalspezifische Gerichte in allen bayerischen Bezirken machen eine Ökologie der kurzen Wege schmeckbar. Das fördert den Tourismus und unterstützt die lokale Vernetzung mit Gastronomie und Hotellerie.
Sie sind in Ihrer Arbeit mit Entwicklungen wie Bauernhöfesterben und Boden als Spekulationsobjekt der Finanzwirtschaft konfrontiert. Was ist Ihre persönliche Kraftquelle, um sich weiter für die Transformation einzusetzen?
Die vielen Ansätze im Boden-, Pflanzen- und Tierschutz, die gerade in den letzten zehn Jahren auf der ganzen Welt erprobt und weiterentwickelt werden, motivieren mich, hartnäckig zu bleiben. Permakultur, regenerative Landwirtschaft und Solidarische Landwirtschaft sind dafür gute Beispiele. Hoffnung gibt mir die zunehmende Anzahl – auch begleitet von der Stiftung – von Dialogen zwischen Stadt und Land, um gemeinsame Wege für ein gutes Leben und Wirtschaften im regionalen Kontext zu finden. Und ganz persönlich schöpfe ich Kraft aus gemeinsamen Wanderungen mit meiner Frau durch europäische, agrarisch geprägte Kulturlandschaften. Und dem Miteinander in meinem Heimatdorf. Last but not least: Phasen der inneren Einkehr.
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