Schülergenossenschaften für die Next Generation
Best-Practice-Beispiel: Die Wiesbadener "Green Leibniz eSG"
Mit dem Artikel „Schülergenossenschaften für die Next Generation" setzen wir die forum Serie Genossenschaften fort. Hiermit möchten wir die Vielfalt an genossenschaftlichen Unternehmen zeigen und dazu inspirieren, Genossenschaften zu gründen. Hier finden Sie auch einen Überblick, wen und was es speziell für die Gründung einer Schülergenossenschaft braucht. |
Früh übt sich, wer nachhaltig wirtschaften und solidarisch handeln will. In Schülergenossenschaften ist das möglich. Jugendliche lernen hier ganz praktisch, wie es geht. So funktioniert Bildung für nachhaltige Entwicklung mit Spaß und Start-up-Spirit.
Seit über einem halben Jahr stehen knapp 20 Wiesbadener Gymnasiasten mit beiden Beinen fest im Wirtschaftsleben. Marketing, Kundenberatung, Einkauf und Verwaltung gehören für die 13 bis 17 Jahre alten Jungunternehmer inzwischen zum Alltag. Zumindest nachmittags, denn vormittags sind sie „ganz normale" Schüler und besuchen das Gymnasium Leibnizschule in der Wiesbadener Innenstadt. Ihre zeitintensive Nebentätigkeit haben sich die Schüler selbst ausgesucht. Sie gründeten im November 2019 die „Green Leibniz eSG" und damit die erste Schülergenossenschaft Hessens. Ihre Geschäftsidee: ein Balkon- und Zimmerpflanzen-Service für ältere und weniger mobile Menschen. Die Jugendlichen beraten ihre Kunden zu schönen und geeigneten Pflanzen und Töpfen, kaufen diese bei einer örtlichen Gärtnerei und stellen sie auf dem Balkon oder in der Wohnung auf. Die spätere Pflege der Pflanzen übernehmen die Schüler auf Wunsch ebenfalls.
Schüler setzen auf die Genossenschaftsidee
Für ihr grünes Start-up nutzen die Jungunternehmer alle Möglichkeiten der Digitalisierung. Der Internetauftritt greenleibniz.de und die Präsenz in sozialen Medien wie etwa Instagram zählen dazu. Für ihre Unternehmensform „eSG" setzten die Schüler dagegen ganz bewusst auf eine rund 175 Jahre alte Idee: die Genossenschaft.
„Für uns war von Anfang an klar, dass wir zwar Geld verdienen wollen, aber dies nicht der alleinige Zweck sein soll", betont der Vorstandsvorsitzende Béla (13). „Auf jeden Fall wollten wir auch älteren Menschen helfen." Zugleich wollen Béla und seine Mitstreiter so viel wie möglich praktische Erfahrungen im echten Wirtschaftsleben sammeln. Deshalb konstruierten die Schüler ihr Unternehmen nach genossenschaftlichen Prinzipien: demokratisch, nachhaltig und eben ohne Gewinnmaximierung.
Rund 200 Schülergenossenschaften in Deutschland
Die Wiesbadener „Green Leibniz eSG" ist eine von derzeit rund 200 bundesweit aktiven Schülergenossenschaften. Jede „eingetragene Schülergenossenschaft" agiert dabei wie ein echtes Unternehmen. Sie hat reale Mitarbeiter und Mitglieder mit eigenen Geschäftsanteilen sowie einen realen Geschäftszweck und verkauft Produkte und/oder Dienstleistungen für echtes Geld an echte Kunden. Doch etwas unterscheidet sie von anderen Unternehmen am Markt: Eine Schülergenossenschaft ist stets auch ein Bildungsprojekt der Schule, das auf mindestens drei Jahre angelegt sein muss. Deshalb gibt es in der Praxis immer eine Schulleitung, die das Projekt fördert, und engagierte Lehrer, die die oft minderjährigen Jung-Entrepreneure betreuen. An der Leibnizschule sind das Nils Hektor und Benedikt Böhm, die ihre Schützlinge von Beginn an begleiten. Die beiden Lehrer sind sehr beeindruckt vom Engagement und der Kreativität ihrer Schüler. „Wir sind begeistert, wie viel Zeit und Energie die Jugendlichen über den Unterricht hinaus in das Projekt investieren", sagt Hektor, der Politik und Wirtschaft unterrichtet. „Zudem ist die Resonanz in der Schülerschaft durchweg positiv."
Unterstützung durch genossenschaftliche Unternehmen und Verbände
Eine gute Geschäftsidee sowie engagierte Schüler und Lehrer sind bereits eine gute Basis für den Erfolg einer Schülergenossenschaft. Wenn dann noch professionelle Unterstützung aus der Wirtschaft hinzukommt, entstehen oft erstaunlich tragfähige Geschäftsmodelle. Dass solche praktische Hilfe von Genossenschaften und genossenschaftlichen Unternehmen kommt, liegt auf der Hand. Im Falle der „Green Leibniz eSG" war es die genossenschaftliche R+V Versicherung, die ihren Hauptsitz ebenfalls in der hessischen Landeshauptstadt hat.
„Weil wir von Schülergenossenschaften begeistert sind, gingen wir auf den Schulleiter der Leibnizschule, Rainer Guss, zu und haben unsere Unterstützung und Partnerschaft angeboten", berichtet R+V Innovationsmanager André Dörfler. Denn die Förderung von Genossenschaftsgründungen ist ein Ziel, dem sich die Versicherung zusätzlich zu ihrem eigentlichen Geschäftszweck verschrieben hat. „Zu den genossenschaftlichen Werten zählen unter anderem Solidarität, demokratische Zusammenarbeit und gesellschaftliche Verantwortung. Somit sind Genossenschaften eine ethische und auch hybride Unternehmens- und Rechtsform", betont Dörfler. „In ihnen werden die Vorteile von Unternehmen mit den Vorteilen von Vereinen zusammengebracht."
Bei der Gründung der Schülergenossenschaft half den Wiesbadener Gymnasiasten auch der „Genossenschaftsverband – Verband der Regionen e.V." bei der Festlegung der Satzung und bei den regelmäßigen Prüfungen der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung. Experten des Verbands und Partner führten Workshops für die Gründung durch und berieten die Schüler kostenlos zu Start-up-Methoden, zum Geschäftsmodell und zur Unternehmensführung. Für den Genossenschaftsverband ist ein solches Engagement ein sinnvolles Investment: „Das gemeinsame Arbeiten in einer nachhaltigen Schülergenossenschaft eröffnet Schülern Einblicke in konkrete wirtschaftliche, ökologische und soziale Zusammenhänge", sagt Daniela Watzke. „Es regt zudem unternehmerisches Denken und Handeln an und bringt Orientierung für das spätere Berufsleben."
Minister schicken Grußbotschaften
Das Engagement der Wiesbadener Gymnasiasten kam auch in der Politik gut an. Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und Kultusminister Alexander Lorz schickten eigens für die Gründungsversammlung im November 2019 Videobotschaften. „Unser Land braucht Gründerinnen und Gründer, die unternehmerische Verantwortung tragen wollen und auch wissen, wie das geht. Das kann man kaum früh genug lernen", lobte Al-Wazir. Und Minister Lorz ergänzte: „Mit der Gründung der ersten Schülergenossenschaft in Hessen beweisen die Schülerinnen und Schüler der Leibnizschule Mut und Pioniergeist, denn von der Anfangsidee über die Erarbeitung eines Geschäftsplans bis zur tatsächlichen Umsetzung ist es ein langer Weg."
Auch der Start in das Tagesgeschäft begann für die jungen Unternehmer problemlos, eine kooperierende Gärtnerei war schnell gefunden und die Vorbereitungen auf das Frühjahr mit vielen Beratungen und Produktverkäufen liefen auf Hochtouren. Leider folgte wegen der Corona-Pandemie ziemlich schnell nach dem Geschäftsbeginn eine ungewollte Zwangspause. Doch dadurch ließen sich die Leibniz-Schüler nicht entmutigen. Noch während der zahlreichen Einschränkungen durch das Coronavirus setzten sie ihre Marketing- und Vertriebsaktivitäten fort und überlegten, wie sie trotz Kontaktbeschränkungen die Produkte und Services an ihre Zielgruppe der älteren und weniger mobilen Menschen bringen und welche weiteren Zielgruppen interessiert sein können. Deshalb sind sie und ihre Lehrer auch zuversichtlich, dass das Tagesgeschäft nach dem Shutdown wieder hochläuft und dass im Sommer auf vielen Wiesbadener Balkonen und Terrassen Pflanzen der „Green Leibniz eSG" wachsen und gedeihen werden.
Bildung für nachhaltiges Wirtschaften und solidarisches Handeln
„Schülergenossenschaften zeigen, wie jung und frisch die Genossenschaftsidee ist", ist André Dörfler überzeugt. Auf die Frage beim MakerCamp Genossenschaften, wie mehr Gründungen von Genossenschaften entstehen können, antwortete Ingmar Rega als Vorstandsvorsitzender vom Genossenschaftsverband – Verband der Regionen e.V.: „Da setzt ganz klar Bildung an. Wissensvermittlung über das, wie Wirtschaft funktioniert und was Genossenschaften können, was sie Gutes tun. Deshalb sind Schülergenossenschaften ein so wichtiges Element." Davon ist auch Thorsten Eckl von der genossenschaftlichen Münchner Bank eG überzeugt. Besonders begeistert ihn der Enthusiasmus, mit dem die Schüler rangehen: „Mehr Genossenschaft geht gar nicht."
Das hat gute Gründe, denn Schülergenossenschaften stehen wie auch andere Genossenschaften für nachhaltiges Wirtschaften und solidarisches Handeln, denn sie sind von Schülerinnen und Schülern eigenverantwortlich geführte Unternehmen, die auf der genossenschaftlichen Unternehmens- und Rechtsform basieren. Sie erarbeiten eigene Geschäftsideen und -modelle sowie Arbeitsabläufe und -strukturen. Sie entwickeln Produkte und/oder Services, die sowohl schulintern als auch außerhalb der Schule vertrieben werden können. Die Geschäftsfelder der rund 200 Schülergenossenschaften sind dabei vielfältig: „beeRottweil eSG" vom Leibniz-Gymnasium Rottweil kooperiert mit Imkern aus der Region und vermarktet deren Honig mit eigenem Label. „GEnius Lingen" betreibt an der Gesamtschule Emsland in Lingen einen Pausenverkauf von Fairtrade-Produkten und eine Holzmöbel-Produktion aus Hölzern der Region. Die „Walforma eSG" der Freien Waldorfschule in Mainz betreibt einen Schulmarkt und verkauft Bio-Backwaren, die sie von einem lokalen Bio-Bäcker bezieht. Den drei Beispielen ist gemeinsam, dass sie beim Bundes-Schülerfirmen-Contest 2019 mit Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) zu den 10 besten Schülerfirmen Deutschlands gewählt wurden.
Im Unterschied zu anderen Schülerfirmen arbeiten Schülergenossenschaften nicht nur ein paar Monate und schließen zum Schuljahresende. Vielmehr richten sie ihr Geschäftsmodell auf Dauer und mehrere Schülergenerationen aus. Dabei lernen die Schüler sehr viel in der Gemeinschaft mit Spaß, Start-up-Spirit und Unternehmertum.
Darüber hinaus tragen ihre Schülergenossenschaften zur Erreichung der Sustainable Development Goals (SDG) bei, den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der UN: Vor allem auch zum SDG 4 - hochwertige Bildung, denn in Schülergenossenschaften wird Bildung für nachhaltige Entwicklung praktisch gelernt. Und zu guter Letzt: In Schülergenossenschaften übernehmen Jugendliche Verantwortung – persönlich, unternehmerisch und gesellschaftlich. Dadurch entwickeln sie sich weiter. „Das ist wichtig", sagt André Dörfler. „Sie sind die Next Generation."
Frank Senger ist Redakteur bei der genossenschaftlichen R+V Versicherung. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Themen Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility (CSR).
Wirtschaft | Gründung & Finanzierung, 14.05.2020
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