Technik | Energie, 12.07.2013

Marktwirtschaft paradox!

Warum Erneuerbare Energie immer öfter den Bedarf zu 100 Prozent deckt - und es Geldgeschenke in Millionenhöhe für Atom- und Kohlestrom gibt.

Von Ingo Leipner

Die Kosten für ein zusätzliches MegaWatt (MW) Strom sind bei der Atomenergie am geringsten. Dann folgen die übrigen Energieträger, die in der Merit-Order immer teurer werden. Aus diesem Zusammenhang lässt sich die rote Angebotskurve an der Börse ableiten. Die grünen Nachfragekurven stehen in der Grafik senkrecht, weil sich die jeweilige Nachfrage bei einem steigenden Preis nicht verändert (vereinfacht dargestellt). Stimmen Angebot und Nachfrage überein (Schnittpunkt: grüne und rote Kurve), wird zu dem so ermittelten Preis der Strom an der Börse verkauft.Eigentlich fegen die Erneuerbaren Energien Atom- und Kohlestrom vom Markt. Zumindest an Tagen, an denen die Nachfrage gering ist - und viel Wind weht oder die Sonne kräftig scheint, wie es Weihnachten 2012 der Fall war. Zu diesem Zeitpunkt hätte kein Atom- oder Kohlekraftwerk in Betrieb sein müssen, denn den Bedarf deckte zu 100 Prozent Strom aus Erneuerbarer Energie.

Aber die Realität ist viel komplizierter: "Wenn nur Erneuerbare Energie auf dem Markt ist und ihr Angebot quasi die gesamte Nachfrage deckt, lässt sich Strom aus konventionellen Kraftwerken nicht mehr verkaufen", erklärt Energie-Experte Prof. Andreas Löschel vom "Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung" (ZEW). Die Konsequenz am Strommarkt: negative Preise!

"Es ist für die Betreiber konventioneller Kraftwerke günstiger, ihren Kunden für den Strom etwas zu bezahlen, als die Kraftwerke mit hohen Kosten herunterzufahren", so Prof. Löschel. Im Klartext: Aus betriebswirtschaftlichen Gründen bleiben konventionelle Kraftwerke am Netz, obwohl ihre Leistung gar nicht gebraucht wird. Und das kostet richtig Geld: Am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag 2012 wurden am PHELIX-Spotmarkt 689 Millionen kWh gehandelt, allerdings zahlten die Käufer nichts für diesen Strom - und bekamen als "Dankeschön" für die Abnahme 74,88 Millionen Euro geschenkt. Atom- und Kohlestrom als "Ladenhüter", die nur mit einer Prämie über die Theke gehen!

Strompreis um 17 Prozent gesunken

Doch der Strommarkt hält noch weitere Überraschungen bereit: Erneuerbare Energie senkt den Preis an der Strombörse, laut dem "Internationalen Wirtschaftsforum Regenerative Energien" (IWR) um 17 Prozent. Dabei hat das IWR die ersten fünf Monate von 2011 und 2012 verglichen. Trotzdem steigt die EEG-Umlage. Warum? Das liegt am "Merit-Order-Effekt": Die Merit-Order beschreibt die Reihenfolge, in der konventionelle Kraftwerke ans Netz gehen. Zuerst Atomkraftwerke mit den niedrigsten Kosten pro MW, zuletzt die Ölkraftwerke mit den höchsten Kosten pro MW. Die ökonomische Logik: Am Anfang werden die günstigsten Kraftwerke eingeschaltet, weil sie den größten Gewinn erwirtschaften - das geschieht so lange, bis Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Das heißt: Das so genannte "Grenzkraftwerk" geht als letzter Anbieter ans Netz und legt mit seinen Kosten den einheitlichen Börsenpreis fest.

Dieser Preis ergibt sich nicht als Durchschnittswert aller möglichen Kosten, sondern entsteht beim Hochfahren des "Grenzkraftwerks", bei dem die Einnahmen gerade die Kosten decken. Alle anderen Kraftwerke vor dem "Grenzkraftwerk" arbeiten mit Gewinn (bzw. positiven Deckungsbeiträgen), denn sie werden in der Merit-Order zuerst eingeschaltet. Die übrigen Kraftwerke nach dem "Grenzkraftwerk" gehen nicht ans Netz, da ihre Kosten den Börsenpreis übersteigen. In der Grafik sind das beispielhaft ein Teil der Gaskraftwerke und alle Ölkraftwerke (Nachfrage nach konventioneller Energie (1) - Gaskraftwerk als "Grenzkraftwerk").

Jetzt kommt die Erneuerbare Energie ins Spiel: Sie hat gesetzlich Vorrang vor den atomar-fossilen Energieträgern und praktisch keine variablen Kosten. Sie reduziert daher die Nachfrage nach konventioneller Energie (Graphik: Die grüne Nachfrage-Kurve verschiebt sich nach links). Es entsteht ein neues Gleichgewicht aus Angebot und Nachfrage, zu einem niedrigeren Preis, der für alle Energieträger gilt (Grafik: Nachfrage nach konventioneller Energie (2) - Steinkohlekraftwerk als "Grenzkraftwerk"). Die Folge: Atom-, Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke sind weniger rentabel bzw. ein paar Steinkohlekraftwerke sind bereits zu teuer.

Gaskraftwerke aus dem Markt gedrängt

Klimafreundlichere Gaskraftwerke werden aus dem Markt gedrängt, weil ihre Kosten über dem Marktpreis liegen (Grafik: Verlustgeschäft). Aber noch lohnt sich der Betrieb schmutziger Braunkohlekraftwerke, da bei ihnen in der Regel keine Abschreibungen mehr anfallen. Außerdem steigt die EEG-Umlage, weil sie die Differenz aus der staatlich garantierten Einspeisevergütung und dem Strompreis an der Börse ausgleicht. Das Paradoxe dabei: Die Endkunden bezahlen eine höhere EEG-Umlage, die Käufer an der Strombörse profitieren von gesunkenen Preisen.

Vor diesem Hintergrund fragt sich Prof. Löschel: "Wie kann der Markt künftig einen Anreiz bieten, Gaskraftwerke zu betreiben?" Ein Weg könnte sein, den scheintoten Emissionshandel in der EU zu reanimieren. Im Moment (Stand April 2013) kostet eine Tonne CO2 rund fünf Euro, was an zu großzügig verteilten CO2-Zertifikaten liegt. Das hat gravierende Folgen: Besonders Braunkohlekraftwerke stoßen viel CO2 aus, was die Betreiber aber wenig Geld kostet.

Die Tonne CO2 muss deutlich mehr kosten

"Es besteht oft kein Anreiz, Gas- statt Kohlekraftwerke zu betreiben", erklärt Prof. Löschel, "entsprechend ist im letzten Jahr mehr Kohle verstromt worden, und wir haben deutlich weniger Strom aus Gaskraftwerken erzeugt." Dadurch sind die CO2-Emissionen in Deutschland gestiegen - und es werden immer weniger klimafreundliche Gaskraftwerke gebaut. Die Schlussfolgerung des Energie-Experten: "Damit ein Gaskraftwerk gegenüber einem Braunkohlekraftwerk konkurrenzfähig wird, brauchen wir bei den augenblicklichen Brennstoffkosten einen deutlich höheren Preis für eine Tonne CO2 - über 20 Euro!"

Quelle:

Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2013 - Die Food-Industrie erschienen.



     
        
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