Risikofreudige Präventionsmuffel und depressive Powerfrauen

Ein Blick durch die Genderbrille

"Frauen sind anders gesund - Männer auch." So lautete vor einigen Jahren ein Slogan der Gewerkschaftsfrauen in der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE), mit dem sie für die Initiative "Gesunder Mensch im gesunden Unternehmen" warben. Es ist wichtig, dass Unternehmen Gesundheit und Krankheit unter dem Genderaspekt betrachten, da auf unterschiedliche Bedürfnisse unterschiedliche Maßnahmen folgen müssen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat in drei Unternehmen untersucht, ob und wie unterschiedlich Frauen und Männer mit Belastungen umgehen, und liefert nun interessante Ergebnisse.

Frauen stellen sich schon unter dem Begriff Gesundheit etwas anderes vor als Männer: Sie verbinden Gesundheit eher mit Wohlbefinden, Männer denken an Leistungsfähigkeit und die Abwesenheit von Krankheit. Frauen reden offener über gesundheitliche Probleme, während Männer kleinere oder auch größere Beschwerden eher ignorieren. Denn krank - und schwach - zu sein, widerspricht anscheinend immer noch dem männlichen Rollenklischee.

In der Tat leben Frauen gesundheitsbewusster und nehmen häufiger Präventionsangebote wahr. Nach Erkenntnissen der BARMER Ersatzkasse sind Männer "Präventionsmuffel", stellen doch die Frauen bei den angebotenen Gesundheitskursen zwischen 80 und 90 Prozent der Teilnehmer. Weitere Beispiele für das unterschiedliche Verhalten der Geschlechter sind
  • geringerer Alkoholkonsum, aber eine höhere Medikamentenabhängigkeit bei Frauen,
  • die häufigere Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen,
  • ein riskanteres Verhalten im Straßenverkehr oder am Arbeitsplatz bei Männern.
Ein Blick auf die Ursachenstatistik von Arbeitsunfähigkeit zeigt, dass bestimmte Erkrankungen jeweils häufiger bei Männern oder bei Frauen auftreten (s. Abb. 1). Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems betreffen mehr Männer, ebenso Verletzungen durch Arbeitsunfälle. Bei Frauen werden öfter psychische Erkrankungen diagnostiziert. Männer äußern psychische Probleme seltener - offen bleibt jedoch die Frage, ob Männer sich deshalb dreimal häufiger das Leben nehmen als Frauen. Neuere Untersuchungen zeigen: Bei den Beschäftigten nehmen psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände oder negativer Stress zu. Dies gilt für Männer wie für Frauen, wobei die Männer aufholen.

Abb. 1
© BKK Gesundheitsreport 2008

Betriebe unter der Lupe

Diese Unterschiede der Geschlechter waren für die Gewerkschaftsfrauen in der IG BCE Grund genug, das Thema Gesundheit im Betrieb stärker in den Mittelpunkt zu rücken und ein Umdenken einzuleiten: Sie fragen:"Was hält uns bei der Arbeit gesund?" statt: "Was macht uns krank?"

In Kooperation mit der IG BCE hat die Hans-Böckler-Stiftung vor drei Jahren ein Forschungsvorhaben gestartet, das sich der Genderperspektive im betrieblichen Gesundheitsmanagement widmet. Ziel ist es zu untersuchen, wie sich betriebliche Belastungskonstellationen jeweils auf Frauen und Männer auswirken. Drei Pilotbetriebe machen mit: zwei Betriebe aus der chemischen Industrie und ein Bergbaubetrieb. Die Beschäftigten benennen ihre Probleme selbst, analysieren sie und entwickeln in erster Linie verhältnispräventive Lösungsvorschläge. Dabei betrachten sie die Stressfaktoren am Arbeitsplatz vor dem Hintergrund ihrer gesamten Arbeits- und Lebenssituation. Beleuchtet werden berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und Weiterbildung, Gleichbehandlung beziehungsweise Diskriminierung, Arbeitszeitregelungen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Regenerationsmöglichkeiten.

Was stresst wen?

In den Pilotbetrieben nennen die Beschäftigten folgende Defizite als wesentliche Stressfaktoren am Arbeitsplatz:
  • schwierige Zusammenarbeit und schlechtes Betriebsklima
  • mangelhafte Information und Kommunikation
  • zu wenige Angebote zur Qualifizierung und Weiterbildung
  • unzureichende Mitsprachemöglichkeiten und schlechtes Führungsverhalten
  • schlechte Arbeitsorganisation, Zeit- und Termindruck sowie personelle Engpässe
  • zu wenige Aufstiegsmöglichkeiten und falsche Personalentscheidungen
Diese Belastungen sind allerdings nicht geschlechtsspezifisch, sondern hängen wesentlich von der Tätigkeit der Beschäftigten und der Organisationsstruktur des Unternehmens ab.

Wenn es um berufliche Anerkennung und um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, unterscheiden sich die Einschätzungen hingegen deutlich.

Frauen...
  • fühlen sich öfter bei Entscheidungen übergangen,
  • finden häufiger, dass ihre Fähigkeiten nicht berücksichtigt werden,
  • empfinden eine größere Verpflichtung, zeitlich verfügbar zu sein, wenn sie im Betrieb weiter kommen wollen,
  • fühlen sich stärker durch familiäre Probleme belastet und durch den Beruf in der Verwirklichung von Vorstellungen zu Familie und Partnerschaft eingeschränkt,
  • können häufiger ihre Berufs- und Familienpflichten nicht wunschgemäß erfüllen,
  • können neben Familie und Beruf weniger eigenen Interessen nachgehen und
  • äußern häufiger, dass die Arbeit ihnen wenig freie Zeit zur Erholung lässt
als die befragten Männer.

Männer dagegen...
  • fühlen sich stärker belastet durch hohe Verantwortung,
  • vermissen öfter die Anerkennung guter Arbeit durch die Vorgesetzten,
  • finden häufiger, dass ihre Vorschläge und Ideen nicht berücksichtigt werden,
  • können, sofern sie familiäre Betreuungspflichten haben, diese schlechter neben dem Beruf organisieren und können seltener auf soziale Unterstützung zurückgreifen
als die befragten Frauen.

Und was ist zu tun?

Grundsätzlich hat eine geschlechtergerechte Gesundheitsförderung dann gute Chancen auf Erfolg, wenn Männer und Frauen in Gesundheitszirkeln oder ähnlichen Arbeitskreisen gleichermaßen vertreten sind. Bisher sind im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz die Akteure weitgehend männlich. Zudem gehören nicht nur "Männer"arbeitsplätze, die als unfallgefährdeter oder gesundheitsschädlicher gelten, in den Fokus des betrieblichen Gesundheitsmanagements, sondern grundsätzlich alle Arbeitsplätze. Denn psychische Fehlbelastungen zu thematisieren, dient - den Statistiken nach zu urteilen - zwar zunächst eher Fraueninteressen. Profitieren können aber Männer gleichermaßen, wenn es um den Abbau von Geschlechterstereotypen geht, die unnötig Stress erzeugen.

Geschäftsleitungen sollten darüber hinaus ihre Verantwortung für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten als Gelegenheit sehen, um strukturelle Differenzen bei beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten von Männern und Frauen abzubauen. Schließlich sind Frauen nach wie vor häufiger an Arbeitsplätzen mit geringeren Handlungs-, Entscheidungs- und Aufstiegschancen tätig. Laut EU-Kommission liegt der durchschnittliche Stundenlohn von Frauen in Deutschland derzeit um 23 Prozent unter dem der Männer. Ein wichtiger Grund für die Ungleichheit sei die hohe Teilzeitquote von Frauen. Dies verdeutlicht erneut, wie wichtig es ist, die Vereinbarkeitskonflikte von Beruf und Familie nicht auf die Beschäftigten abzuwälzen, sondern im Betrieb anzugehen und die potenzielle Doppelbelastung abzufedern, von der in der Regel immer noch weit mehr Frauen als Männer betroffen sind.
 
Von Maria Büntgen



Im Profil

Maria Büntgen, Diplom-Volkswirtin, ist die wissenschaftliche Leiterin des Forschungsvorhabens der Hans-Böckler-Stiftung zur geschlechtergerechten Gesundheitsförderung. Sie arbeitet als freiberufliche Sozialwissenschaftlerin und Beraterin in Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Frauenerwerbsarbeit, verbunden mit lernförderlicher Arbeitsgestaltung und Betriebliche Gesundheitsförderung.


Quelle:
Wirtschaft | Führung & Personal, 11.05.2009
     
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