Umwelt | Wasser & Boden, 01.06.2025
Halbmonde gegen den Hunger
Martin Frick, Leiter des UN World Food Programmes im forum-Interview
Armut, Konflikte und zerstörte Böden befeuern Hunger und Flucht. Das World Food Programme versucht die Not zu lindern und arbeitet an langfristigen Lösungen. forum fragte am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz nach Zahlen, Fakten und Lösungen.

Herr Frick, die Bekämpfung von Hunger ist das erste und damit oberste Ziel der UN-Nachhaltigkeitsziele. Wie hat sich die Hungersituation weltweit in den letzten 20 bis 50 Jahren entwickelt?
Trotz des Bevölkerungswachstums sank die Zahl der Hungernden lange. 2015 schien das Ziel der Sustainable Development Goals, den Hunger bis 2030 zu besiegen, erreichbar. Doch seit 2016 stagniert der Fortschritt, und seit 2019 verschlechtert sich die Lage dramatisch. Vor der COVID-19-Pandemie waren 135 Millionen Menschen akut von Hunger betroffen, heute sind es 343 Millionen. Besonders betroffen sind Regionen, die bereits vorher mit Armut, schwachen Infrastrukturen und politischen Instabilitäten zu kämpfen hatten.
Was sind die Hauptgründe für diese Entwicklung?
Das sind die drei „K"-Faktoren: Konflikte, Kosten und Klimawandel. Derzeit gibt es weltweit 59 Kriege und Konflikte, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Allein im Sudan leidet die Hälfte der Bevölkerung an Hunger! In Afghanistan herrscht weiterhin eine dramatische Hungersituation, und auch in Syrien wird es noch lange dauern, bis wieder eine Art Alltags-Normalität herrscht. Der Krieg in der Ukraine hat zudem globale Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, da die Ukraine und Russland als wichtige Exporteure von Getreide und Düngemitteln ausfallen oder nur eingeschränkt liefern können.
Als Spätfolge der COVID-19-Pandemie sind viele Länder inzwischen extrem verschuldet. Diese Staaten müssen für ihre Schulden nun auch noch deutlich höhere Zinsen zahlen als noch vor zwei Jahren. Das schwächt die lokalen Wirtschaften und treibt die Inflation in die Höhe. Hohe Lebensmittelpreise erschweren den Zugang zu Nahrung, insbesondere für Menschen in einkommensschwachen Ländern.
Und schließlich bedroht der Klimawandel die Ernten: Dürren und extreme Wetterereignisse nehmen zu. Ein Beispiel: In Teilen des südlichen Afrikas kam es zu einem fast 80-prozentigen Ernteausfall bei Mais. In Ostafrika erleben wir die schlimmste Dürre seit 40 Jahren, die Millionen von Menschen in Not gebracht hat. In Südostasien wiederum führen Überschwemmungen und Taifune regelmäßig zu massiven Ernteverlusten. Im statistischen Mittel sehen wir deutlich: Dürren treten häufiger auf, dauern länger und Wettermuster werden immer unberechenbarer. Besonders auffällig sind die zunehmenden Starkregen-Ereignisse weltweit – eine klare Folge der Erderwärmung. Diese Entwicklungen verschärfen die Hungerkrise und führen dazu, dass immer mehr Menschen von externer Hilfe abhängig sind.
„Die drei „K”-Faktoren – Konflikte, Kosten und Klimawandel – verschärfen die Hungerkrise und führen dazu, dass immer mehr Menschen von externer Hilfe abhängig sind.”
Wie arbeitet das UN World Food Programme, um den Hunger weltweit zu bekämpfen?

Momentan liegt unser Fokus zu etwa drei Vierteln auf akuten Nothilfeeinsätzen und nur zu einem Viertel auf langfristigen Lösungen. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Krisen unsere sofortige Hilfe erfordern. Doch langfristig ist es essenziell, auch die strukturellen Ursachen von Hunger zu bekämpfen – denn nur so verhindern wir, dass noch mehr Menschen humanitäre Hilfe benötigen.
Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?
In der Sahelzone dringt die Wüste immer weiter nach Süden vor, in erster Linie durch nicht angepasste Landwirtschaft und falsche Landnutzung. Um dem entgegenzuwirken, setzen wir auf traditionelle Methoden, die im Sahel teilweise seit über 2000 Jahren praktiziert werden: halbmondförmige Mulden sammeln Regenwasser und verbessern die Bodenfruchtbarkeit. Die Wasseraufnahme wird durch kleine Speichermulden mit Stroh und Dung erhöht, sodass auch während längerer Trockenperioden Feuchtigkeit erhalten bleibt.
Diese Methode ist einfach, aber äußerst wirkungsvoll. Sie wurde bereits von indigenen Gemeinschaften genutzt, um trockene Böden wieder fruchtbar zu machen. Bäume werden in diesen Bereichen gepflanzt, und sobald sie wachsen, kühlt der Boden ab, die Feuchtigkeit steigt, und die Vegetation kehrt zurück. Nach nur zwei bis sechs Jahren entstehen grüne Landschaften, wo zuvor Wüste war. Diese Methode ist ein Teil der sogenannten „Great Green Wall"-Initiative, die darauf abzielt, ein 8.000 Kilometer langes Band aus Vegetation quer durch Afrika zu schaffen.
Das klingt gut, welchen Herausforderungen begegnen Sie dabei?
Ein Problem ist die Zeitspanne, bis die Flächen wieder ertragreich werden. Während dieser Phase brauchen die Menschen Unterstützung, etwa durch Transferzahlungen oder Schulmahlzeiten für ihre Kinder. Wir kombinieren also uralte Methoden mit modernen Ansätzen, wie zum Beispiel Zahlungen über Mobiltelefone und Frühwarnsysteme für Extremwetterereignisse. Wenn all dies zusammenkommt, können wir tatsächlich hektarweise Land der Wüste abtrotzen. In den letzten fünf Jahren haben wir über 300.000 Hektar Land wieder nutzbar gemacht – ein unglaublicher Erfolg!
Besonders Frauen spielen eine Schlüsselrolle, da viele Männer aufgrund von Binnenvertreibungen in die Hauptstädte geflohen sind oder dort Arbeit suchen. Die Frauen bearbeiten das Land, organisieren den Anbau und tragen maßgeblich zum Gelingen des Projekts bei. Häufig sind sie es, die neues Wissen in die Gemeinschaft tragen und nachhaltige Techniken anwenden. Gleichzeitig erleben wir, dass junge Menschen durch diese Projekte eine Zukunftsperspektive sehen, anstatt ihre Heimat zu verlassen.
„Niemand möchte auf Almosen angewiesen sein – die Menschen sind stolz, sich durch ihre eigene Arbeit ernähren zu können.”
Wie nachhaltig sind diese Erfolge?

Es gibt beeindruckende Beispiele für nachhaltige Entwicklung: In Regionen, in denen das Halbmond-Projekt umgesetzt wurde, sind nach einigen Jahren nicht nur die Ernten gestiegen, sondern auch die Wasserversorgung und die Artenvielfalt haben sich verbessert. Lokale Gemeinschaften berichten, dass sie ihre Lebensmittelversorgung nun selbst sichern können und weniger auf Hilfslieferungen angewiesen sind.
Konnte bereits gemessen werden, wie sich das Projekt auf die Hungersituation auswirkt?
Ja, 2023 konnten wir trotz einer langen Dürreperiode nachweisen, dass 500.000 Menschen nicht mehr auf teure humanitäre Hilfe angewiesen waren. Das ist ein großer Erfolg, denn es geht nicht nur um Nahrung, sondern auch um Würde und Unabhängigkeit. Niemand möchte auf Almosen angewiesen sein – die Menschen sind stolz, sich durch ihre eigene Arbeit ernähren zu können. Wenn wir solche Projekte ausweiten, können wir noch viel mehr erreichen. Der Schlüssel liegt in der Kombination aus traditionellem Wissen, moderner Wissenschaft und nachhaltiger Finanzierung. Wenn mehr Investitionen in diese Richtung fließen, könnten Millionen von Menschen aus der Hungerfalle entkommen.
Wie kann die Weltgemeinschaft bei dieser globalen Aufgabe helfen?

Herr Frick, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen viel Erfolg und Durchhaltevermögen bei der Bekämpfung des Hungers.
Martin Frick verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in den Vereinten Nationen, insbesondere in den Bereichen Klima und humanitäre Hilfe. Seit 2021 leitet er das Berliner Büro des UN World Food Programme (WFP).
Die 5 Stufen des Hungers
Zur Einschätzung einer Hungerkrise dient die „Integrated Food Security Phase Classification" (IPC) – eine fünfstufige Skala zur Bewertung der Ernährungssicherheit.
- Minimal: Die Ernährungslage gilt als gesichert. Die Menschen verfügen über ein regelmäßiges Einkommen und sind in der Lage, den grundlegenden Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken (mehr als 2.100 Kilokalorien pro Tag). Weniger als 3 Prozent der Bevölkerung sind von Unter- oder Mangelernährung betroffen. Diese Stufe trifft auf die meisten Industriestaaten zu.
- Angespannt: Ein Großteil der Bevölkerung verfügt über ein Mindestmaß an Nahrungsmitteln. Einige Haushalte können sich grundlegende Lebensmittel und andere notwendige Güter nicht leisten, ohne auf Strategien zur Stress- und Krisenbewältigung zurückzugreifen. Dazu gehören z.B. der Verkauf von Eigentum oder Kinder zu Angehörigen zu schicken. 10 Prozent der Bevölkerung sind unterernährt. Viele Länder in Zentral- und Westafrika befinden sich in dieser Stufe.
- Krise: Ein Fünftel der Bevölkerung leidet unter lückenhafter Nahrungsmittelversorgung. Viele Menschen müssen sich anstrengen, um den Mindestbedarf an Nahrungsmitteln zu decken und können sich diesen meist nur durch den Verkauf von Besitztümern oder das Aufbrauchen von Ressourcen leisten. 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung sind mangel- oder unterernährt. Viele Länder in Zentralafrika befinden sich in dieser Stufe, z.B. Sudan, Südsudan, Demokratische Republik Kongo, aber auch Jemen, Afghanistan und Pakistan.
- Notfall: Bei dieser Stufe handelt es sich um einen humanitären Notfall. Über 15 Prozent der Menschen sind mangel- oder unterernährt und die Sterblichkeit in der betroffenen Region steigt. Des Weiteren werden Regionen als Notfall eingestuft, wenn Haushalte ihre Nahrungsmittelversorgung allein durch den Einsatz von Strategien zur Sicherung der Lebensgrundlage und durch die Veräußerung von Besitztümern sichern können. Betroffen sind unter anderem Gaza sowie Regionen in Afghanistan, Südsudan, Sudan, Jemen und Mali.
- Hungerkatastrophe/Hungersnot: Der Hunger ist allgegenwärtig und Menschen sterben an Unterernährung. In Stufe 5 unterscheidet die IPC zwischen einer Hungerkatastrophe (unter ein Fünftel der Bevölkerung sind betroffen) und einer Hungersnot (ein ganzes Gebiet oder eine ganze Region ist betroffen). Die Hungersnot kann nur von den Vereinten Nationen oder der jeweiligen Landesregierung erklärt werden. Aktuell befinden sich Menschen im Gazastreifen, im Südsudan und in Jemen in einer Hungerkatastrophe.
Die Sahel- Resilienz Initiative in Zahlen
- 290.000 Hektar Land wurden wiederhergestellt, 2.230 Hektar Garten angelegt, 560 Brunnen und 1.740 Teiche geschaffen oder saniert, um die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln und das Einkommen zu verbessern.
- Schulen werden durch unterstützte Kleinbauern beliefert. 900.000 Schulkinder erhielten nahrhafte Mahlzeiten in mehr als 2.900 Schulen; Schulbesuche von Mädchen im Teenageralter wurden durch Lebensmittelrationen zum Mitnehmen, Stipendien oder Schulpakete gefördert.
- Im Niger benötigten 80 Prozent der an den Maßnahmen teilnehmenden Dorfgemeinschaften während der mageren Zeit zwischen den Ernten keine humanitäre Hilfe mehr.
- Mehr als 32.500 junge Menschen engagierten sich in von Jugendlichen geleiteten Initiativen für sozialen Zusammenhalt und Frieden.
- Mehr als 2 Millionen Kinder und Frauen wurden durch Maßnahmen zur Vorbeugung von Mangelernährung erreicht; mehr als 1,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren wurden gegen Mangelernährung behandelt.
- 210.000 Jungen und Mädchen besuchen sichere Schulen und über 193.000 Jungen und Mädchen wurden beim Fernunterricht unterstützt, wenn Schulen geschlossen waren oder sie vertrieben wurden.
- 386.000 Mitglieder der Gemeinschaften erhielten nachhaltigen Zugang zu sauberem Wasser und engagierten sich in gemeinschaftlichen Hygienemaßnahmen. (UNICEF)
(Stand Juli 2024)
Dieser Artikel ist in forum 03/2025 - Der Wert der Böden erschienen.

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