Eine Zeitenwende für die Wirtschaft

Ein Pamphlet

Klimakrise, Krieg und Inflation: Die Krisen zeigen, dass unser Wohlstandsmodell das Klima zerstört und Menschen ausbeutet. Doch der Übergang zu einem nachhaltigen und gerechten Wirtschaften kann gelingen – wenn das wirtschaftliche Denken und Handeln in sechs Bereichen grundlegend verändert wird.

© TheDigitalArtist, pixabay.comIn jeder Krise steckt eine Chance. Dieser oft strapazierte Satz ist derzeit wichtiger denn je. Denn die Krisen dieser Zeit führen uns jeden Tag den hohen Preis unseres Wohlstands vor Augen. Notwendig ist nicht weniger als eine Zeitenwende hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften. Im Mut zu dieser Zeitenwende liegt die Chance dieser Krisen.

Der Weg zu einem nachhaltigen Wohlstandsmodell setzt jedoch den Abschied von Denkgebäuden voraus, die jahrzehntelang als Wahrheiten gehandelt werden, aber von den Krisen als Scheinwahrheiten entlarvt wurden: Der Markt, der angeblich alles regelt; das scheinbar unantastbare Wirtschaftswachstum; der Glaube an die Digitalisierung als Allzweckwaffe; das Erfolgsmodell der Globalisierung, das kaum je in Frage gestellt wird; die offenbar unvermeidbare Wegwerf-Gesellschaft oder die dramatische Ungleichheit, die wie ein göttliches Dogma hingenommen wird.

Noch immer werden diese Scheinwahrheiten aus dem vergangenen Jahrhundert von der Mehrheit in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft verteidigt. Dennoch scheint hinter dem alten Denken auch der Weg zu neuen Ufern durch. In dem Augenblick, in dem diese Wege zu neuen Ufern  beschritten werden, öffnet sich auch der Weg zu einer Zeitenwende.

1. Der Markt braucht den Staat

Zaghaft wächst auch in der herrschenden Ökonomie die Einsicht, dass der freie Markt alleine nicht zu einer nachhaltigeren Ökonomie führen kann. Die vielbeschworenen Marktkräfte sorgen zwar auf bestehenden Märkten für Innovationen. So verbesserten die Autokonzerne in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder ihre Verbrennungsmotoren. Den Übergang zu neuen Technologien wie erneuerbaren Energien oder die E-Mobilität schaffen die Marktkräfte von alleine jedoch nicht. Dafür braucht es staatliche Fördermittel, öffentliche Investitionen und geeignete Rahmenbedingungen wie genügend Ladesäulen.

Obwohl sie unpopulär sind, können auch Verbote Innovationen generieren. So wurden die heute gängigen LED-Lampen erst nach dem Verbot herkömmlicher Glühbirnen entwickelt. „Überall auf der Welt haben staatliche Programme zu Hochburgen der Innovation geführt", sagte die britische Ökonomie-Professorin Mariana Mazzucato auf einer Konferenz in Berlin. Ihre Schlussfolgerung: Die Transformation zu einer Ökonomie der Zukunft braucht staatliche Förderung, Regulierung und in bestimmten Fällen auch Verbote dessen, was nicht zukunftsfähig ist.

2. Manches muss wachsen, anderes schrumpfen
Von dem Ziel eines möglichst hohen Wirtschaftswachstums lösen sich bisher weder die Wirtschaftswissenschaft noch die Politik. Allerdings gewinnt die Diskussion über ein Postwachstum oder über die Schrumpfung der Ökonomie an Bedeutung, zumindest für eine kritische Minderheit. Zwar kann die pauschale Schrumpfung der Wirtschaft nicht die Lösung sein, weil dabei die Gefahr eines Zusammenbruchs der Wirtschaft besteht, der extreme Kräfte begünstigen könnte. Andererseits macht die Debatte deutlich, wo die Zukunft liegen könnte, nämlich in einem neuen Gleichgewicht von Weniger und Mehr: weniger fossile Energie, dafür immer mehr erneuerbare Energie; weniger schnelllebige Spekulationen, dafür mehr nachhaltige Investitionen; mehr Bahn, Busse, Fahrräder und Fußgänger – weniger Autos auf der Straße, weniger Flugzeuge am Himmel; mehr Naturschutz, weniger Flächenfraß; mehr Wiederverwendung, weniger Verschwendung; mehr nachhaltige Landwirtschaft, weniger Tiere auf der Weide und Pestizide auf den Feldern. Allerdings wird sich dieses neue Gleichgewicht nicht einfach am Markt einspielen – es muss von Politik und Gesellschaft gezielt gestaltet werden.

3. Digitalisierung braucht Ethik und Kontrolle

„Digital first, Bedenken second". Mit diesem Slogan warb die FDP im Bundestagswahlkampf 2017 für eine Digitalisierung mit möglichst wenig Regulierung. Genau dies führt in die Irre. Nichts spricht dagegen, Verwaltungsarbeiten in Behörden, Arztpraxen oder Krankenhäusern digital zu vereinfachen. Die Digitalkonzerne jedoch unreguliert machen zu lassen und die Digitalisierung als Allzweckwaffe zur Lösung vieler Probleme einzusetzen, bedroht Bürgerrechte, Demokratie und das Klima. Mit jedem Kauf, mit jedem Zahlvorgang im Netz liefern die User Daten an Konzerne, die als Futter für die Werbung dienen. „Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, worüber du nachdenkst", sagte der damalige Google-Chef Eric Schmidt schon 2010. Je weniger Regeln und Kontrolle, desto größer ist die Gefahr des Missbrauchs von Daten für Überwachung, politische Manipulation, Fake News, für Hassreden, Beleidigungen und für Gewaltvideos, die auch Jugendliche austauschen.

Und so smart und sauber digitale Technologien auch wirken: sie verbrauchen Unmengen an Strom und Ressourcen. In einer Studie verglich das französische Thinktank „The shift project" den weltweiten Energieverbrauch des Internets mitsamt den Rechenzentren mit dem ganzer Staaten. Das Ergebnis: Das Internet landete auf Platz 6 der Staaten mit dem höchsten Energieverbrauch.
 
Zu Stromfressern könnten auch E-Mobile werden, vor allem dann, wenn sie selbst fahren. Wie sehr, das demonstrierte der Berliner Wissenschaftler Tilman Santarius bereits auf der Konferenz „Bits und Bäume" 2018. Damit sich diese Fahrzeuge sicher durch den Verkehr bewegen, müssen sie laufend ihre Umgebung scannen und mit anderen Autos kommunizieren. Dazu benötigen sie Kameras, Radar- und GPS-systeme und viele weitere Stromfresser. Die Schlussfolgerung von Santarius: Allein zwei Millionen selbstfahrender Autos werden die gleiche Datenmenge erzeugen wie die Hälfte der Weltbevölkerung, mit einem immensen Strombedarf.

Die Digitalisierung kann also nützlich sein, sie kann zu mehr Effektivität beitragen, aber sie kann auch die Demokratie und die Bürgerrechte gefährden, Belegschaften in Gewinner und Verlierer spalten und das Klima aufheizen. Um die Digitalisierung wirklich für das Gemeinwohl wirken zu lassen, braucht es einen ethischen Kodex und klare Gesetze für ihre Anwendung, es braucht Verbrauchsgrenzwerte für Geräte und die Mitbestimmung der Beschäftigten in den Betrieben. Und, was niemand sagt: Es braucht vor allem weniger, aber viel langlebigere, stromsparendere Technologien.

4. Vision einer Langfristökonomie
Erst vor kurzem ermittelte das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), dass „sich mit allen Smartphones und Laptops in den Schubladen deutscher Haushalte der Materialbedarf für alle Smartphones in den kommenden zehn Jahren decken ließe". Die Unternehmensberatung „Deloitte" beziffert den Anteil der Kreislaufwirtschaft in der Europäischen Union auf unter zehn Prozent. Entsprechend groß ist die Verschwendung von Ressourcen.

Immerhin nimmt das Engagement für die Kreislaufwirtschaft zu: In der Metropole Amsterdam etwa haben Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine Roadmap zu einer hundertprozentigen Kreislaufwirtschaft bis zum Jahr 2050 beschlossen. Österreich und Schweden belohnen Reparaturen von technischen Geräten mit Zuschüssen und geringeren Steuern. Auch hierzulande wächst die Zahl der Secondhand-Kaufhäuser, Kleidertausch-Plattformen, Repair-Cafés ebenso wie das Angebot an gebrauchten Smartphones und Laptops, die neu aufbereitet wurden. Doch erst wenn gesamtwirtschaftliche Vorgaben und Gesetze dafür sorgen, dass Geräte länger haltbar und reparaturfähig produziert sowie Rohstoffe so weit wie möglich wieder in die Produktion eingebracht werden, wird aus dem schnelllebigen Wachstumskapitalismus eine zukunftsfähige Langfrist-Ökonomie.

5. Gerechte Lieferketten, faire Rohstoffpolitik

Die Erfolge der Globalisierung beruhen auch auf geringen Löhnen ausländischer Arbeitskräfte und auf dem unbegrenzten Zugang zu Rohstoffen. Immerhin setzte die Große Koalition ein Gesetz durch, das die Unternehmen stärker zur Achtung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zwingt. Es ist ein erster Schritt zu gerechten Lieferketten, die allerdings erst erreicht werden, wenn Unternehmen wegen der Verletzung von Menschenrechten durch NGOs oder Gewerkschaften verklagt werden können. Dies soll nun ein EU-weites Lieferkettengesetz richten.

Doch immer noch mangelt es an einer nachhaltigen und humanen Rohstoffstrategie. Wie sehr der Bedarf an Ressourcen gerade durch die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft weltweit wachsen wird, rechnete die Internationale Energieagentur im vergangenen Jahr vor. Danach dürfte die Nachfrage nach Lithium bis 2040 auf das 42-fache steigen, jene nach Grafit auf das 25-fache, bei Kobalt auf das 21-fache, bei Nickel auf das 19-fache und bei seltenen Erden auf das Siebenfache. Diese Rohstoffe werden zu einem Teil in totalitären Staaten abgebaut, zu einem anderen Teil in Regionen, in denen sich Indigene gegen den oft zerstörerischen Abbau wehren. Das macht die Bedeutung einer Rohstoffstrategie deutlich, welche Menschenrechte und die Umwelt achtet.

6. Gerechtigkeit oder Chaos
Doch wie realistisch ist es, diese erdachte Zeitenwende umzusetzen? Zugegeben, die Herausforderungen sind gewaltig. Bereits heute zeigen sich die typischen Symptome einer Übergangs-Gesellschaft: Viele Menschen wissen, dass die alte Wachstumsspirale von mehr produzieren, mehr arbeiten, mehr kaufen, mehr wegwerfen nicht mehr tragfähig ist. Ein anderes, nachhaltiges Wirtschafts- und Lebensmodell ist jedoch noch nicht greifbar, nicht fühlbar.
Diese Lücke verursacht Ängste. Es wächst die Konfrontation zwischen jenen, denen es bei dieser Zeitenwende nicht schnell genug gehen kann und jenen, die das alte Wohlstandsmodell mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die tätlichen Angriffe von Autofahrern auf jene, die sich auf Straßen festkleben, sind nur die Spitze des Eisbergs an Aggressionen.

Diese Konfrontation lässt sich nur entschärfen, wenn die Regierung den Menschen den Weg in die gebotene Zeitenwende erleichtert.
Wenn der Wohlstand nachhaltiger, aber teurer wird, müssen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften verhindern, dass die sozial Benachteiligten weiter in die Armut gedrängt werden: durch einen steigenden Mindestlohn, schneller steigende Löhne für Geringverdiener, durch die staatliche Unterstützung von Familien mit Kindern, durch soziale Netze für all jene, die in diesem Veränderungsprozess ihren Job wechseln müssen.
 
Zudem braucht es gerecht organisierte Renten-, Kranken- Und Pflegeversicherungen, in die alle gleichermaßen von allen Einkommen einzahlen und auf die alle die gleichen Ansprüche auf Leistungen haben – ohne Privilegien. Notwendig sind öffentliche Investitionen in das Gemeinwohl – man denke nur an Schulen, Kindergärten, Pflege oder die Bahn – die durch gerechte Steuern und den Abbau umweltschädlicher Subventionen finanziert werden müssen. Wer höhere Steuern oder die Kürzung von Subventionen zum Tabu erklärt, erweist sich als nicht zukunftsfähig. Es braucht vielmehr beides: die Kürzung von umweltschädlichen Subventionen und höhere Steuern ab einer bestimmten Höhe von Einkommen, Erbschaften und Vermögen.

Erst Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und Investitionen in das Gemeinwohl schaffen jene Atmosphäre, in der sich die Menschen auf grundlegende Veränderungen ihres Lebens einlassen können. In diesem Geist von sozialer Sicherheit können alle ihr Lebensmodell verändern: vom ständigen Drang zur Steigerung des materiellen Lebensstandards hin zu einem „guten Leben", für das sie nicht mehr auf einen ständig wachsenden Konsum angewiesen sind.

Wolfgang Kessler ist Ökonom und Publizist. Von ihm erschien gerade das Buch „Das Ende des billigen Wohlstands. Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört". Publik-Forum Verlag.

Wirtschaft | Ethisches Wirtschaften, 06.12.2023

     
        
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