Die Macht der Schönheit

Kunst und Ästhetik für die Nachhaltigkeitsrevolution

Menschen, die ins Büro gehen, kommen dorthin mit ihrem Körper und dieser braucht stimmige physische Ergonomie. Menschen bringen aber auch ihre Seele mit und diese braucht Nahrung. Die Nahrung für die Seele heißt Spirit. Spirit gibt es kon­zentriert nur in der Religion und in der Kunst. Deswegen muss Kunst integraler Bestandteil von Räumen zur Potenzialentfaltung sein.
  
© Teunen Konzepte GmbH / Foto: Marcus MichaelisDezember 2022, Deutscher Nachhaltigkeitstag Düsseldorf: In der zehnte Minute fällt aus dem Mund der Moderatorin Andrea Thilo ein wichtiger Satz: „Wenn wir über Nachhaltigkeit reden, müssen wir auch über Kunst reden". Dass dieses Statement von einer klugen Frau kam, wundert nicht, denn in der Regel haben sich mehr Frauen als Männer die Reinheit der Intuition bewahrt. Und um diese geht es hier: Um ein Verständnis dafür, dass die segensreiche Wirkung von Kunst auf Mensch und Gesellschaft hilfreich ist um die notwendigen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Der Dichter Rainer Maria Rilke hat in seinen Duineser Elegien eine Erklärung dafür gegeben. Er stellt dort die poetische Hypothese auf, es sei das Schicksal der Welt, unsichtbar zu werden. Natürlich meinte er nicht, die objektive Welt werde sich sukzessive unseren Blick entziehen. Der Prozess, von dem er spricht, spielt sich vielmehr im Inneren der Menschen ab: Sie verlernen es, die Schönheit in der lebendigen Welt zu sehen, sie erblinden für die Schönheit der Natur, die Schönheit in den Mitmenschen, die Schönheit in den Dingen. Die Augen vieler Menschen sind müde geworden. „When your eyes are tired, the world is tired although", sagt der amerikanisch-irische Dichter David Whyte in seinem Gedicht „Sweet Darkness".
 
Der Verlust von Geist und Seele
Dass die Augen vieler Menschen ermüdet sind, ist ein Resultat. Die Ursache von müden Augen ist das Versiegen der inneren Kraftquelle des Menschen, die früheren Generationen als Seele bekannt war. Die Seele ist das einzige nicht organische Organ des Menschen, und dieses Organ hat die Aufgabe, die Verbindung mit dem ‚Höheren‘ aufrecht zu erhalten. Sie kann dieser Aufgabe aber nicht gerecht werden, wenn sie ausgehungert ist. Nicht nur unser Körper muss genährt werden. Auch die Seele braucht Nahrung.

Die Seele nährt sich von Geist – oder für diejenigen, denen das Wort „Geist" zu esoterisch klingt: vom ‚Spirit‘. Geist und Spirit findet der Mensch von Alters her in zwei Bereichen seiner Lebenswelt, die ursprünglich ineinander verwoben waren: Religion und Kunst. Zu beiden verlieren die Menschen den Zugang, wenn ihre Augen müde und ihre Seelen ausgelaugt sind. Damit aber verschließt sich ihnen die Kraftquelle des Geistes. Sie haben dann nichts mehr, was sie begeistert: keine Visionen, denen sie folgen; keine Ideen, die sie beflügeln; keine Ideale, an denen sie Maß nehmen könnten. Begeisterung und Leidenschaft verschwinden – und mit ihnen die Leistungskraft und Kreativität. Mit ausgelaugten Seelen und müden Augen entscheiden sich die Menschen für das Mittelmaß – also für etwas, das der Feind des Menschen ist.
 
Der Triumph der Mittelmäßigkeit
Inzwischen hat das Ausmaß der Mittelmäßigkeit ein kritisches Niveau erreicht. Bildlich gesprochen droht es, die Menschheit in die ‚Unterwelt‘ zu ziehen. Die Folgen dessen beschreibt ein alter Mythos. Er erzählt, dass Hades, der Herr der Unterwelt, die junge Persephone entführte, um sie zu seiner Frau zu machen. Das erboste ihre Mutter, die Göttin Demeter, deren Zuständigkeit die Fruchtbarkeit der Erde, des Getreides und der Saat umfasste. Aus Gram über das Verschwinden ihrer Tochter, beschloss sie, das Wachstum auf der Erde einzustellen und die Naturprozesse zum Erliegen zu bringen, bis der Totengott ihre Tochter neuerlich freigeben würde.

„When your eyes are tired, the world is tired although.”
David Whyte in „Sweet Darkness"

Heute ist es nicht Hades, der uns in die Unterwelt zieht, sondern der Verlust der Dimension des Geistes. Er hat zum Triumph der Mittelmäßigkeit und zur Erosion des Qualitätsempfindens geführt. Die Konsequenz ist heute dieselbe wie damals: Die Erde ist ‚beleidigt‘ und weigert sich, mit den Menschen zu kooperieren. Erdbeben, Dürren, Überflutungen und vieles mehr sind die Folge. Was also ist zu tun?
 
Wir müssen das Unsichtbarwerden der Welt aufhalten, sie zurückholen in die Sichtbarkeit, und wieder lernen, mit der Erde in friedlicher Koexistenz zu leben. Dafür braucht es motivierte Menschen: begeisterte Menschen, die den Mut aufbringen, sich von der Schönheit der Welt begeistern zu lassen. Es braucht Menschen, die ihren Sinn für Schönheit schulen und wieder lernen, Qualität zu sehen und zu würdigen; und zwar nicht nur die Qualitäten von Gegenständen und Dingen, sondern auch die Qualitäten des Menschseins, die man früher Tugenden nannte. Ein neues Qualitätsbewusstsein für das Umfeld der Menschen und ihren Umgang miteinander: Das ist eine grundlegende Voraussetzung, die erfüllt sein muss, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen.
 
Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Wie kann Qualitätsbewusstsein kultiviert werden? Der erfolgversprechendste Weg dorthin ist der Weg der Kunst. Doch wirft die Feststellung sogleich eine zweite Frage auf: Wie lässt sich Kunst und die von ihr evozierte Erfahrung von Qualität und Schönheit im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit verankern – zumal dann, wenn wir es mit einer Gegenwartskunst zu tun haben, die traditionellen Standards von Schönheit und Ästhetik abgeschworen hat? Eine einfache Antwort auf diese Frage ist schon deshalb nicht möglich, weil sie auf ein Desiderat verweist, das die gesamte Gesellschaft angeht.
 
Natürlich steht jedem Individuum jederzeit die Möglichkeit offen, Kunstsammlungen aufzusuchen oder sich für die Schönheit der Natur zu öffnen – was erfreulicherweise auch häufig geschieht. Doch bleibt es dabei zumeist bei privaten Erfahrungen, die nicht die Kraft zur gesellschaftlichen Transformation aufbringen. Politik, als gesellschaftstransformative Kraft par excellence, braucht hingegen zu lange, um über zweifellos wünschenswerte Reformen des Bildungswesens den Sinn für Schönheit und Qualität in der Breite zu fördern. Effektiver dürfte es daher sein, den Hebel dort anzusetzen, wo in der Welt der Moderne ohnehin das größte Innovationspotenzial verortet ist: in der Wirtschaft.
 
Nun sind Unternehmen aber nicht gerade bekannt dafür, ausgewiesene Orte von Schönheit und Ästhetik zu sein. Arbeits- und Wirtschaftsräume sind für gewöhnlich nicht durch ästhetische, sondern durch funktionale Kriterien geprägt – mit der Folge, dass Geist und Seele der dort arbeitenden Menschen zumeist unterernährt bleiben. Dass immer mehr Berufstätige aller Branchen unter psychischen Erkrankungen leiden oder bestenfalls Dienst nach Vorschrift leisten, dürfte unter anderem auch einem Mangel an Schönheit im Umgang und der Umgebung am Arbeitsplatz geschuldet sein.
 
Kunst „stimmt" Mensch und Unternehmen
Großes Transformationspotenzial hin zu begeisterten und qualitätsvollen Arbeitskulturen schlummert in der Integration von Kunst in Arbeits- und Büroräumen. Da der Großteil der Erwerbsarbeit heute von Wissensarbeitern in Büros verrichtet wird, kann gerade hier ein außerordentlich wirkungsvoller Hebel betätigt werden.
 
Dabei ist es nicht damit getan, zum Schmuck der Wände hier und da ein Bild aufzuhängen, um so die Büros gefälliger zu machen. Wo Kunst lediglich dekorativen Zwecken dient, wird sie ihr begeisterndes Potenzial nicht entfalten können. Zielführender ist die Einrichtung einer kuratierten Corporate Collection, wie sie, meist auf Initiative kunstbegeisterter Unternehmerpersönlichkeiten, manchen Betrieb zieren. Solche Sammlungen geben die Möglichkeit, thematische Bezüge zwischen Kunst und Unternehmens-Purpose herzustellen und so den Geist bzw. Spirit des Unternehmens ins Bewusstsein zu heben. Doch auch dies wird nicht geschehen, solange nicht feste Zeiten und Räume für die explizite Beschäftigung mit Kunst in der Unternehmenskultur verankert sind.
 
„Wenn wir über Nachhaltigkeit reden, müssen wir auch über Kunst reden.”
Andrea Thilo

Manche Firmen, wie der Schraubenhersteller Würth, oder der Schokoladenproduzent Ritter haben die segensreiche Wirkung von Kunst auf die Lebensqualität, Motivation und Produktivität ihrer Mitarbeiter*innen erkannt. Für eigene Sammlungen wurden sogar eigene Museen eingerichtet.Natürlich kann sich nicht jedes Unternehmen ein eigenes Museum leisten. Und sicherlich sind oft die räumlichen Gegebenheiten limitiert, so dass die Einrichtung von Kunsträumen schwer möglich ist.
 
In diesem Falle besteht aber immer noch die Option, Räume mit Kunst zu versehen. Unternehmen, die Kunst in den Arbeitsräumen integrieren und auch den Tiefenraum der Kunst für die Mitarbeiter öffnen, haben erkannt, dass Kunst das Potenzial hat, Menschen gut zu stimmen. Wenn Menschen bei der Arbeit gut gestimmt werden, gehen sie anschließend gut gestimmt auf die Welt zu – und der Welt kann nichts Besseres passieren.
 
Genau das ist nötig, wenn nicht nur Unternehmen, sondern eine Gesellschaft im Ganzen den Mut und die Innovationskraft aufbringen soll, die allfällige Nachhaltigkeitsrevolution zu vollbringen. Deshalb sind die Worte von Andrea Thilo so bedeutungsvoll: „Wenn wir über Nachhaltigkeit reden, müssen wir auch über Kunst reden".
 
Kreativität braucht einen Kulturraum. Was das konkret bedeuten kann, haben wir in unserem Buch „Wo die Seele singt – Über Kunst in Unternehmen" (Remedium Verlag 2019) dargestellt. 
 

Christoph QuarchDer Bestseller-Autor ist Philosoph aus Leidenschaft. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen. In seinem Buch „Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" antwortet er auf die Frage: Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung!

Prof. Jan Teunen 
ist Cultural Capital Producer. Er unterstützt seine Kunden darin, ihr kulturelles Kapital und ihre Wirtschaftskraft zu mehren. Er begleitet sie bei der Entfaltung nachhaltiger Unternehmenskulturen und trägt dazu bei, dass sie mit sich und der Welt im Einklang sind. Er entwickelt individuelle und kreative Konzepte für eine wirkungsvolle Kommunikation und begleitet ihre Realisierung in Zusammenarbeit mit erstklassigen Partnern.

Technik | Green Building, 01.06.2023
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2023 mit dem Schwerpunkt: Künstliche Intelligenz - Künstliche Intelligenz oder natürliche Dummheit? erschienen.
     
        
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