«Ernährungszukunft Schweiz»: Ein Bürger:innenrat für die Zukunft der Schweizer Ernährungspolitik
Carole Küng und Daniel Langmeier im Doppel-Interview
Das Projekt «Ernährungszukunft Schweiz» bringt die Stimmen der Bevölkerung und der Wissenschaft in die laufende Debatte über die Zukunft unseres Ernährungssystems ein. Im Interview stellen Carole Küng und Daniel Langmeier das jüngste Schweizer Biovision-Engagement vor.
Wie soll eine Ernährungspolitik für die Schweiz aussehen, die bis 2030 allen Menschen gesunde, nachhaltige, tierfreundliche und fair produzierte Lebensmittel zur Verfügung stellt? Das Thema beschäftigt zurzeit intensiv die Akteur:innen in der Wertschöpfungskette von der Heugabel bis zum Suppenlöffel. Ab Mitte Juni 2022 befassen sich erstmalig auch 100 ausgeloste, in der Schweiz wohnhafte Frauen und Männer im «Bürger:innenrat für Ernährungspolitik» mit dieser Frage. Das Gremium ist Teil des jüngsten Schweizer Biovision-Projekts «Ernährungszukunft Schweiz»*. Wir haben mit dem Projektverantwortlichen Daniel Langmeier, Politikberater und Landwirtschaftsexperte bei Biovision, und Carole Küng, Mitglied der Projektleitung und Ko-Direktorin von SDSN Schweiz, über ihre Absichten gesprochen.
Was ist ein Bürger:innenrat und was kann er zur laufenden Diskussion über die Zukunft der Schweizer Ernährungspolitik beitragen?
Daniel Langmeier (DL): Wir haben in der Schweiz ein grundsätzliches Interesse daran, herauszufinden, wie die Transformation unserer Ernährungssysteme hin zu mehr Nachhaltigkeit gelingen kann. Mit genau dieser Frage beschäftigt sich der Bürger:innenrat für Ernährungspolitik zwischen Juni und November. Die 100 Bürger:innen bilden sich als repräsentatives Abbild der Bevölkerung eine Meinung und erarbeiten Empfehlungen für konkrete Massnahmen. Ich bin überzeugt, dass es nach den polarisierten Debatten zur Landwirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren solche Formate braucht, damit Blockaden überwunden werden können und es wieder vorwärts geht.
Carole Küng (CK): Bürger:innenräte binden die Stimme der Bevölkerung in den Dialog ein. Sie helfen so mit, gesellschaftlich abgestützte Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Der transparente, öffentliche Prozess stärkt ausserdem das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik. Und schliesslich bringt ein Bürger:innenrat neue Aspekte in die laufende Debatte ein, die für politische Entscheidungstragende unterstützend sein können.
Und wer sind die Menschen, die im Bürger:innenrat mitmachen?
DK: Die Mitglieder des Rats sind zwischen 16 und 77 Jahre alt. Interessent:innen wurden von DemoSCOPE nach einem Zufallsverfahren gefunden und die 100 Teilnehmenden schliesslich per Los ausgewählt. Damit geben die Mitglieder des Rats ein möglichst genaues Abbild der Schweizer Bevölkerung. Darunter sind viele, die sich für politische Fragen interessieren. Es hat aber auch Mitglieder, die sich als apolitisch bezeichnen und den Bürger:innenrat als Chance sehen, den politischen Prozess aktiv mitzugestalten. Auch die Parteienlandschaft ist gut abgebildet: Von Sympathisant:innen der Grünen bis zu der SVP nahestehenden Personen sind alle vertreten.
Was sind die konkreten Aufgaben für den Bürger:innenrat in den nächsten sechs Monaten?
DL: Die Mitglieder treffen sich am Wochenende vom 11./12. Juni zum ersten Mal in Olten. Dort lernen sie einander und den Prozess kennen und nehmen die Arbeit auf. Im weiteren Verlauf finden verschiedene Austauschtreffen mit Vetreter:innen aus der Wissenschaft und von Interessengruppen aus dem Ernährungssystem statt aber auch mit Praktikerinnen und Praktikern aus Landwirtschaft, Verarbeitung, Vertrieb und Handel. In Kleingruppen werden konkrete Herausforderungen unseres Ernährungssystems aus unterschiedlichen Perspektiven – zum Beispiel der gesundheitlichen oder ökologischen Sicht – beleuchtet. Während dem Sommer besuchen die Mitglieder des Bürger:innenrats in «Lernreisen» zukunftsweisende Praxisbeispiele für ein nachhaltiges Ernährungssystem. Dort erhalten sie die Möglichkeit, unterschiedliche nachhaltige Ansätze in der Praxis kennenzulernen.
CK: Für den Bürger:innenrat ist neben dem Praxisbezug auch die Neutralität und die Transparenz des Prozesses zentral. Wir sind als Trägerorganisationen* nicht direkt am Prozess des Bürger:innenrats beteiligt. Die praktische Durchführung liegt in den Händen spezialisierter Moderator:innen von collaboratio helvetica und ein wissenschaftliches Kuratorium* begleitet und berät den Bürger:innenrat. Alle externen Beiträge an den Bürger:innenrat werden zwecks Transparenz per Video aufgezeichnet und auf der Webseite (www.buergerinnenrat.ch) veröffentlicht.
(*Mitglieder sind: Prof. Dr. Johanna Jacobi (ETH Zürich), Prof. Dr. André Bächtiger (Universität Stuttgart), Prof. Dr. Nenad Stojanovi? (Universität Genf) und Dr. Francesco Veri (Universität Zürich).
In der Ernährungspolitik gibt es ja unterschiedliche Interessen: Industrie, konventionelle und biologische Landwirtschaft, Einzelhandel ... Wie werden diese Interessengruppen in die Diskussionen einbezogen?
DL: Der Bürger:innenrat ist unabhängig und wird neutral in einem geschlossenen Prozess tagen und sich beraten. Dafür garantieren collaboratio helvetica und das wissenschaftliche Kuratorium. Wir legen zudem grössten Wert darauf, dass die Stimmen ausgewogen sind, die in den Bürger:innenrat einfliessen. Darauf wurde insbesondere bei der Auswahl der Vertretungen der Interessensgruppen durch Verbände und Netzwerke geachtet. Und zum Abschluss findet im Frühjahr 2023 eine separate Tagung mit den Interessengruppen unter Einbezug von Politik und Verwaltung statt.
Unter den Akteur:innen im Ernährungssystem hat es auch Schwergewichte, die zum Teil bereits seit vielen Jahrzehnten stark Einfluss auf die Politik nehmen. Wie reagierten sie auf den Bürger:innenrat?
CK: Die Reaktionen sind unterschiedlich. Es ist uns erfreulicherweise gelungen, wichtige Akteure, zum Beispiel den Schweizerischen Bauernverband oder die Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (fial) als begleitende Projektpartner zu gewinnen. Im Sinne der Transparenz und Neutralität des Prozesses ist eine kritische Begleitung durchaus erwünscht! Verschiedene Medien haben das explizit gewürdigt. Die Bauernzeitung beispielsweise schreibt: «Es wird grössten Wert auf Ausgewogenheit und Transparenz gelegt».
Die Schweiz hat eine direkte Demokratie. Welchen zusätzlichen Nutzen hat ein Bürger:innenrat?
CK: Ich finde, es gibt nichts Demokratischeres als die repräsentative und informierte Stimme der Bevölkerung! In der Schweiz werden viele Dialoge geführt, aber nur wenige sind systematisch und zielgerichtet strukturiert. Mit «Ernährungszukunft Schweiz» nehmen wir einen Impuls aus dem Aktionsplan des Bundesrats zur Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 auf: Das Projekt setzt auf partizipative Weise die nationalen Dialoge fort, die 2021 im Vorfeld des UN-Ernährungssystemgipfels in der Schweiz geführt wurden. Für SDSN als beteiligte Trägerorganisation ist dieser erste nationale Bürger:innenrat in der Schweiz ein sehr wichtiger Lernprozess.
DL: Bürger:inneräte können meiner Meinung nach den direkt-demokratischen Prozess der Schweiz verstärken. Erfahrungen aus regionalen Bürger:innenräten in der Schweiz zeigen, dass sie als wichtige Ergänzung zu unseren direkt-demokratischen Mitteln funktionieren unter anderem weil sie nicht dem Risiko unterliegen, dass Lobbygruppen mit ihren Partikularinteressen auf das Ergebnis einwirken. Das spezielle Format des Bürger:innenrats verhindert solche Beeinflussung. Über den Bürger:innenrat wollen wir von der Bevölkerung wissen, was es für ein nachhaltigeres Ernährungssystem braucht. Wir sind sehr gespannt auf das Resultat!
Ein weiteres Element von «Ernährungszukunft Schweiz» ist das wissenschaftliche Panel von Expert:innen. Was ist sein konkreter Beitrag?
CK: Es ist zurzeit in der Schweiz ein grosses Thema, wie der Dialog zwischen Politik und Wissenschaften verbessert werden kann, um wissensbasierte Entscheidungen zu treffen. SDSN Switzerland hat – um diese Frage im Kontext der Ernährungssystem zu beantworten – ein Expert Panel initiiert. Es führt die wissenschaftlichen Stimmen der Schweiz für ein nachhaltiges Ernährungssystem zusammen und übergibt den politischen Entscheidungsträgern wissenschaftsbasierte Lösungsvorschläge für ein nachhaltiges Ernährungssystem. Die Mitgleider des Panels stellen ihr spezifisches System- bzw. Fachwissen auch dem Bürger:innenrat zur Verfügung, zum Beispiel in Form von Referaten über Wechselwirkungen der Ernährungspolitik auf unser Gesundheitssystem oder über faire Produktion und Handelsbeziehungen.
Welche Meilensteine gibt es und wann erfahren wir mehr darüber?
DL: Wir berichten laufend. Der Prozess ist transparent und kann auf www.buergerinnenrat.ch jederzeit mitverfolgt werden. Die Medien sind eingeladen, sich ein Bild zu machen und darüber zu berichten. Die wichtigsten Meilensteine des Bürger:innenrats sind nebem dem Auftakt am 11./12 Juni 2022, das Treffen in der Romandie am 1. Oktober und natürlich das Abschlusswochenende vom 5./6. November 2022. Dort beschliessen die Mitglieder des Bürger:innenrats demokratisch ihre Empfehlungen und giessen sie in ihre endgültige Form. So entsteht am Ende ein Katalog an Massnahmen, welcher der Politik und der Verwaltung übergeben sowie der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird.
CK: «Ernährungszukunft Schweiz» vereint die Erwartungen respektive Forderungen der Bevölkerung und der Wissenschaft zur zukünftigen Ausrichtung der Schweizer Ernährungspolitik. Im Februar 2023 kommen die Interessensgruppen im nationalen Ernährungssystemgipfel zusammen, wo die Resultate von Bürger:innenrat und Expert Panel den Entscheidungstragenden aus Politik und Verwaltung übergeben werden. So bringt «Ernährungszukunft Schweiz» die vereinten Stimme von Wissenschaft und von der Bevölkerung in den Dialog für eine nachhaltige Zukunft der Schweizer Ernährungspolitik ein.
Vielen Dank Carole und Daniel für das Gespräch.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Biovision Stiftung für ökologische Entwicklung, Zürich.
Lifestyle | Essen & Trinken, 31.05.2022
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