Intellektuelle schreiben offene Briefe an den Bundeskanzler
Christoph Quarch vermisst dabei eine Idee davon, wie eine diplomatische Lösung aussehen könnte.
Deutschlands Intellektuelle haben ein neues Genre entdeckt: Sie schreiben offene Briefe an den Bundeskanzler. Erst war es eine Gruppe von Autoren um die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer und den Schriftsteller Martin Walser, dann folgte ein weiteres Schreiben mit Absendern wie Maxim Biller, Herta Müller und Daniel Kehlmann und von wenigen Tagen nun ein Brief aus dem Umfeld des Publizisten Ralf Fücks. Das Thema ist stets das gleiche: Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine – doch die Meinungen dazu gehen auseinander: Die einen sind dagegen, die anderen sind dafür. Und der Bundeskanzler hält sich bedeckt. Da fragt man sich, welchen Sinn diese Briefe eigentlich haben. Darüber reden wir mit einem, der selbst Intellektueller ist: dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, haben Sie auch schon einen offenen Brief an den Kanzler geschrieben oder wenigstens unterzeichnet?
Nein, habe ich nicht – habe ich auch nicht vor. Tatsächlich halte ich nicht viel von diesen Briefen, denn soweit ich es überblicken kann, haben sie keine neuen Erkenntnisse oder Argumente in diese parteipolitisch aufgeheizte Debatte eingebracht. Mein Eindruck ist, dass es den Absendern vor allem darum zu tun ist, in einer historisch relevanten Situation ihre Stimme erhoben zu haben und in den Medien aufzutreten, um dort sich und anderen sagen können: „Ich war nicht tatenlos"; vielleicht ist ihnen auch darum zu tun, durch ihre Statements einem Ohnmachtsgefühl zu entkommen. Psychologisch könnte ich das verstehen, aber damit hört es dann auch auf.
Meinen Sie nicht, dass die Autorinnen und Autoren dieser Briefe davon ausgehen, mit ihren Schreiben auf die Politik der Bundesregierung Einfluss nehmen zu können?
Mag sein, dass sie daran glauben; aber wenn es so wäre, fände ich es reichlich naiv. Die Tatsache, dass man als Intellektueller gilt oder sich als Intellektuelle fühlt, sagt ja nichts über die Kompetenz, die jemand im Blick auf militärische Entscheidungen inmitten eines heißen Krieges auszeichnet. Das wäre etwas anderes, wenn die Briefe mehr wären als die Wiederholung von Thesen, Einschätzungen und Behauptungen, die man aus einschlägigen Talkshows kennt – wenn sie andere Horizonte oder Perspektiven erschlössen, die im politischen Diskurs ansonsten außer Acht gelassen werden. Ich denke da zum Beispiel an eine geistige Dimension, die nach dem eigentlichen Sinn und Zweck von Interventionen der deutschen Politik fragt.
Aber das Ziel der Waffenlieferungen steht doch eindeutig fest: die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken und verhindern, dass Russland diesen Krieg gewinnt.
So scheint es, aber wenn wir genauer hinschauen, müssen wir uns eingestehen, dass eine solche Zielsetzung für eine wirkungsvolle Politik viel zu vage ist. Wenn z.B. die Autoren um Herrn Fücks schreiben, die Waffenlieferungen seien nötig, weil es nicht sein kann, dass der Aggressor „als Sieger vom Feld" geht, dann mag das unserem Moralempfinden entsprechen; aber es ist politisch naiv. Denn man müsste ja nun fragen: Als was, bitte schön, soll Russland denn vom Feld gehen? Und darauf haben unsere Intellektuellen keine Antwort. Aber eine solche Antwort brauchen wir: Wir brauchen eine Idee vom Ende des Krieges, wir brauchen eine Idee vom Frieden – was etwas anderes ist als wishful thinking, wer der Sieger sein sollte.
Es gibt auch Intellektuelle wie Ihr Kollege Richard David Precht, die meinen, es könne für die Ukraine klug sein, sich zu ergeben, um so dem Krieg ein Ende zu bereiten. Denken Sie an so etwas?
Nein, weil auch das nicht im Dienst des Zieles stünde, auf das hingearbeitet werden muss: eine Perspektive für Frieden zu schaffen – für eine neue Friedensordnung in Europa. Die wird es aber nicht geben, wenn dieser Krieg klare Verlierer und klare Sieger produziert. Frieden gibt es nur, wenn eine der kriegführenden Parteien sich am Ende nicht als totaler Verlierer fühlen muss. Dieses Ziel ist aber nur auf dem diplomatischen Wege zu erreichen. Deshalb müssen die diplomatischen Bemühungen die höchste Priorität genießen. Wenn wir eine Idee davon haben, wie eine diplomatische Lösung aussehen könnte: dann können wir über den Sinn und Zweck von Waffenlieferungen diskutieren. Eine solche Idee zu entwickeln: Das wäre der Beitrag zur Debatte, den denkende Geistesmenschen leisten können, wenn man ihnen denn Gehör schenkte. Politisches Schwadronieren von Intellektuellen ist da eher kontraproduktiv.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 15.05.2022
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