21 Millionen Rentner in Deutschland dürfen sich ab Juli über eine satte Rentenerhöhung freuen
Christoph Quarch würde sich wünschen, die Rentenerhöhung auszusetzen und das Geld in die Zukunft investieren
Im Osten steigen ihre Bezüge um 6,12 Prozent im Westen um 5,35 Prozent. Die turnusgemäße Rentenanpassung fällt damit höher aus als angenommen. Grund dafür ist ein unerwarteter Anstieg bei den Bruttolöhnen. Die Reaktionen auf die von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgelegten Zahlen fallen durchweg positiv aus. Nur hier und da wird zaghaft gefragt, ob angesichts von Pandemie, Ukraine-Krieg und unsicherer Wirtschaftslage ein solcher Geldsegen vertretbar ist; und ob die Erhöhung aufs Ganze gesehen gerecht ist. Wir haben unseren Philosophen Christoph Quarch gefragt, was er von den Rentenerhöhungen hält.
Herr Quarch, sind die angekündigten Rentenerhöhungen aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Wenn ich recht sehe, führt nach der bestehenden Rechtslage kein Weg an den Erhöhungen vorbei. Und politisch mag es angesichts von 21 Millionen potenziellen Wählern opportun sein, einen solchen Geldsegen über die Rentner auszuschütten. Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten aber halte ich das für höchst problematisch. Schon jetzt steht fest, dass die Generationen, die heute mit ihren Beiträgen und Steuergeldern die Rentenmilliarden finanzieren, auch nicht annähernd so hohe Bezüge erwarten dürfen, wie heutige Rentner. Von jungen Erwachsenen und Jugendlichen ganz zu schweigen. Mit ihren üppigen Renten leben unsere Senioren auf Kosten der Zukunft, da müssen wir uns nichts vormachen.
Aber langsam, Herr Quarch, es gibt in unserem Land genügend Rentnerinnen und Rentner, die hart an der Armutsgrenze oder sogar darunter leben müssen. Wollen Sie diesen Menschen in Zeiten steigender Inflationen die Rentenerhöhung vorenthalten?
Nein, das will ich nicht. Die Ungerechtigkeit sehe ich da, wo Rentner deutlich mehr Geld im Monat beziehen als Berufstätige, z.B. in Pflegeberufen. Da sollten wir meines Erachtens einen Deckel draufmachen und das eingesparte Geld – das ja zu einem guten Teil nicht aus der Rentenkasse, sondern aus Steuereinnahmen kommt – darauf verwenden, dass unsere Schulen und Hochschulen ordentlich finanziert werden, oder unsere Kräfte im Gesundheits- und Sozialwesen; oder dafür, dass die Staatsverschuldung nicht noch weiter in die Höhe getrieben wird – alles Schulden, die künftige Generationen abarbeiten müssen. Wenn wir weiterhin so einseitig die Alten im Lande begünstigen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Jungen irgendwann auf die Barrikaden gehen und Gerechtigkeit verlangen.
Wer heute Renten bezieht, hat Jahrzehnte lang in die Rentenversicherung eingezahlt. Das Geld steht diesen Menschen zu. Da wäre es doch völlig ungerecht, ihnen dieses Geld vorzuenthalten.
Was ist Gerechtigkeit? Darüber haben sich die Philosophen schon immer den Kopf zerbrochen. Von Aristoteles stammt die Unterscheidung zwischen ausgleichender Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Wer so argumentiert wie Sie, fordert die ausgleichende Gerechtigkeit. Nach dem Motto: Ich habe eingezahlt und jetzt steht mir zu, dass ich mein Geld zurückbekomme. Das ist einleuchtend, bleibt aber rein subjektiv. Denkt man hingegen in politischen Kategorien, greift die Verteilungsgerechtigkeit. Denn der Bestand des Gemeinwesens hängt davon ab, dass die Schere zwischen Reich und Arm nicht zu weit aufgeht. Deswegen ist es politisch legitim, die Ansprüche der Einzelnen zurückzuweisen, wenn es das Interesse der gesamten Gesellschaft verlangt. Und das ist hier der Fall. Deshalb halte ich die Rentenerhöhung für unangemessen – zumal gerade jetzt, wo wir einen Energiewandel und eine Sanierung der Bundeswehr finanzieren müssen.
Sie gehören der Generation derer an, die sich auf schmalere Renten einstellen müssen. Höre ich aus Ihren Worten vielleicht eine Spur Sozialneid?
Das Wort „Sozialneid" sollten wir aus unserem politischen Vokabular entfernen. Mit ihm werden Fakten psychologisiert. Als sei Ungerechtigkeit eine Sache des Gefühls und nicht eine messbare Realität. Es geht bei dem hier von uns besprochenen Problem aber mitnichten um die Befindlichkeit Einzelner, sondern um eine gesellschaftliche Schieflage, die früher oder später gravierende Folgen zeitigen wird: sozialer Unfrieden, Verarmung, Unruhe. Das könnten wir uns sparen, wenn wir heute nicht nur von Solidarität reden, sondern sie praktisch umsetzen; etwa, indem wir die Rentenerhöhung aussetzen und das Geld in die Zukunft investieren. Weil das aber nicht passieren wird, kann ich unsere wohlsituierten Rentnerinnen und Rentner nur bitten, ihre Mehreinkünfte ab Juli wenigstens in die Ukraine-Hilfe zu stecken.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 25.03.2022
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