Die große Chance
Jetzt Klimaschutz-Geschichte schreiben
Im forum-Interview spricht Dr. Katharina Reuter, Geschäftsführerin Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft (bis 2021 UnternehmensGrün), über politische Herausforderungen nach der Wahl, soziale Investitionen, zukunftsfähiges Wirtschaften sowie konkrete Ziele im Klimaschutz.
Frau Reuter, wie schnell und radikal müssen wir jetzt umsteuern?
Wenn wir den aktuellen Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)-Bericht aufmerksam lesen, wird klar: Wir hätten schon gestern radikal umsteuern müssen, denn uns rennt die Zeit davon!
Das Wuppertal Institut erklärt, dass es aus technischer und ökonomischer Sicht noch möglich ist, das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten. Dafür brauchen wir die Klimaneutralität bis 2035, nicht erst 2045. Wie können wir das Ihrer Meinung nach schaffen?
Wir sehen, dass sich auch jetzt schon viel bewegt, aber eben noch nicht genug. Damit wir den Klimaschutz-Booster bekommen, braucht es echte Vorreiter – die nächste Bundesregierung könnte dafür sorgen, dass Deutschland Klimaschutz-Geschichte schreibt. Doch dafür muss sie die Transformation der Wirtschaft ernsthaft und entschlossen angehen.
Was kann die neue Regierung dafür tun?
Wir brauchen einen mächtigen Nachhaltigkeitsschub in allen Politikfeldern. Die drei wichtigsten Bereiche sind jedoch: Das Ausbautempo der Erneuerbaren Energien vervierfachen und nicht mehr auf Kohle, Öl und Gas setzen. Wir brauchen außerdem mehr Elektromobilität auf Schiene und Straße und den Ausbau der Ladeinfrastruktur. Und wir müssen die Industrie emissionsfrei machen bzw. auf den Weg dorthin bringen. Das geht mit drastischen Energiesparmaßnahmen und der Förderung von grünem Wasserstoff.
Rechtzeitig zur Bundestagswahl haben Sie einen Forderungskatalog an die Politik präsentiert – was wollen Sie damit erreichen?
Um der Klimakrise zu begegnen, wollen wir die lenkungswirksame CO2-Bepreisung ausbauen und einen Klima-Check für alle Gesetzes- und Investitionsvorhaben einführen. Auf diese Forderung haben sich 26 zukunftsorientierte Wirtschaftsverbände geeinigt.
Wofür stehen diese 26 unterzeichnenden Organisationen ein?
Für ein vielfältiges Bündnis von Branchen! Von der Ernährungs- und Landwirtschaft über die Mobilitätsbranche bis hin zur Digitalwirtschaft und klassischen Sektoren wie Maschinenbau oder Textilproduktion. Das Bündnis setzt sich somit für über 8 Millionen Beschäftigte mit einem jährlichen Umsatz von über 1 Billion Euro ein. Neben den bereits genannten Forderungen wollen wir auch die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, einen schnelleren Kohleausstieg bis 2030 und den Energiewende-Booster. Das bedeutet den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien auf jährlich mindestens 20 GW Photovoltaik, 8 GW Wind Onshore und 3,5 GW Offshore.
Immer wieder drohen die etablierten Industrien mit Arbeitslosigkeit. Wie steht es bei der Umsetzung des „Energiewende-Boosters" denn um die Arbeitsplätze in der Kohleindustrie?
Es wird ein Riesen-Bohei um die verbleibenden Arbeitsplätze in der Kohle gemacht – aber in der Windkraftbranche wurden sang- und klanglos über 40.000 Arbeitsplätze vernichtet. 40.000! Aber darüber sprechen die etablierten Lobbyisten oder Wirtschaftsminister eben nicht. Und beim ehemaligen Wirtschaftsminister Peter Altmaier war anscheinend die Erkenntnis noch nicht angelangt, dass Wohlstand nur dann funktionieren wird, wenn der Klimaschutz dadurch nicht gefährdet wird.
Wie können diese beiden scheinbar widersprüchlichen Seiten, Wohlstand und Klimaschutz, von der neuen Regierung vereint werden?
Indem Investitionen sowie private und öffentliche Finanzströme in zukunftsfähige Unternehmen und Branchen umgelenkt werden. Der (nachhaltige) Finanzmarkt hat eine riesige Hebelfunktion, welcher für die Transformation der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die Sustainable Finance-Strategie, die im Sommer 2021 von der Bundesregierung vorgestellt wurde, ist eine Steilvorlage, um Deutschland zu einem führenden Sustainable Finance-Standort zu machen. Zum Maßnahmenkatalog der Strategie zählen Umschichtungen der Anlagen des Bundes in nachhaltige Anlageformen, Nachhaltigkeits-Kennzeichnungen für Verbraucher*innen (Nachhaltigkeitsampel) und neue Nachhaltigkeits-Berichtspflichten für Unternehmen.
Wie stehen Sie zu sozialen Investitionen und zum gemeinwohlorientierten Wirtschaften?
Die neue Bundesregierung hat die Aufgabe, eine soziale Innovationsstrategie ressortübergreifend für die Förderung nachhaltig wirtschaftender, gemeinwohlorientierter Unternehmen zu erarbeiten. Ich wünsche mir auch, dass der rechtliche Rahmen für nachhaltig wirtschaftende Unternehmen verbessert wird. Dazu zählen zum Beispiel Genossenschaften, Sozial- oder Integrationsunternehmen, Unternehmen in Verantwortungseigentum. Außerdem gehört dazu, dass wir unternehmerischen Erfolg künftig umfassender betrachten und ein ganzheitliches Bilanzierungsverfahren anwenden, das soziale und ökologische Kosten berücksichtigt.
Welche Rolle spielen die nachhaltigen Pionierunternehmen in Zeiten des Wandels?
Aus der Nische sind sie zu Vorreitern geworden. Zuerst belächelt. Und jetzt werden sie zum begehrten Role Model, zu Erfahrungswissen-Teilenden. Denn ihr jahrzehntelanger Vorsprung bewährt sich nun. Das heißt für die Politik und die etablierten Industrieverbände, sie tun gut daran, jetzt stärker auf die nachhaltige Wirtschaft und die Pioniere zu hören.
Sie sind der Meinung, dass Unternehmen ohne Nachhaltigkeit nicht bis 2030 überleben werden. Warum?
Nicht-nachhaltiges Wirtschaften wird keine Kredite oder Investoren mehr finden. Wir sehen hier durch den Anfang der „grünen Taxonomie" eine starke Bewegung aus Brüssel zur Transformation der gesamten Wirtschaft. Und auch die Nachwuchs- und Fachkräfte suchen nach einem Job mit Sinn. Das heißt, auch hier sind Unternehmenslenker*innen gut beraten, wenn sie jetzt ihre Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle umstellen. Hinzukommt die CSRD-Richtlinie (Corporate Social Responsibility Directive), die gerade in Brüssel beraten wird. Sie wird die Berichtspflicht ausweiten und die Nachhaltigkeitsberichterstattung verändern. Das ist ein nächster Meilenstein. In Deutschland wurde das Lieferkettengesetz verabschiedet, die CO2-Preise steigen, fossile Geschäftsmodelle stehen vor dem Aus... daher sage ich: Nachhaltigkeit ist längst nicht mehr Kür, sondern Pflicht und allerhöchste Eisenbahn!
Frau Reuter, wir bedanken uns für das Gespräch und wünschen weiterhin viel Erfolg, Freude, Kraft und Gesundheit.
Nachholbedarf bei Lieferketten und Reporting
Im Bereich der Lieferketten gibt es schon gute Beispiele, wie menschenrechtliche Sorgfaltspflichten und Umweltwirkungen betrachtet und kontrolliert werden. Doch das Thema steht erst am Anfang und birgt noch viele Herausforderungen. Etwa die Entwicklung und Auswahl geeigneter Software. Viele Unternehmen stehen vor der Frage, mit welchem Tool sie Vorlieferanten und deren Zertifikate erfassen. Auch der Begriff „klimaneutral" ist unscharf, seine Konkretisierung eine echte Herausforderung für die nächsten Monate und Jahre.
Hinweis: forum stellt neue Standards, Klimalabel und Softwarelösungen für die Erfassung von Daten in der Lieferkette und von um- weltrelevanten Stoffströmen in den kommenden Ausgaben vor. |
Umwelt | Klima, 01.12.2021
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig 04/2021 stellt sich grundlegenden Fragen zur Veränderung - Systemwandel - wie wird die große Transformation zur Realität? erschienen.
Der Zauber des Wandels
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