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Das Fahrrad als Treiber der öko-sozialen Transformation

Auto oder Fahrrad? Nach Jahrzehn­ten beinahe zügelloser Hingabe an das Automobil steht die Gesell­schaft jetzt vor der Wahl, ihre täglichen Fahrten mit einem nicht minder emotionalen, aber sehr viel nachhaltigeren Fortbewegungsmittel zu absolvieren – dem Fahrrad. Es vereint Lebensqualität, flexible Mobilität und Nachhaltigkeit auf perfekte Weise.

© Günther InnerebnerFahrradfahren bedient alle drei Säulen der Nachhaltigkeit und kann damit Treiber für eine kulturelle Veränderung werden, die für unsere Städte und Länder, aber vielleicht auch unsere Gesellschaft längst notwendig ist. In idealer Weise verbindet es ökonomisch positive Effekte mit den Kriterien der Gesundheit und der sozialen Gerechtigkeit. Grund genug, sich auf den Sattel zu schwingen, um auf eine nachhaltige Entdeckungstour zu gehen.

Die wirtschaftliche Dimension des Fahrradfahrens – das Rad als Säule der ökonomischen Nachhaltigkeit
Die European Cycling Federation (ECF) berechnet den derzeitigen globalen Nutzen des Radfahrens auf 150 Milliarden Euro pro Jahr. Davon sind mehr als 90 Milliarden Euro positive externe Effekte für die Umwelt, die öffentliche Gesundheit und das Mobilitätssystem. Dazu gehören die Stauentlastung und Kraftstoffeinsparung ebenso wie die Reduktion von CO2-Emissionen, Luftverschmutzung, Bodenversiegelung und Lärmbelästigung. Dagegen schätzt eine aktuelle Studie der Europäischen Kommission die negativen Externalitäten des motorisierten Straßenverkehrs, also die Kosten für Umwelt, Gesundheit und Mobilität, auf 800 Milliarden Euro pro Jahr. Der Umsatz des Fahrradmarktes in Europa wurde 2016 auf 13,2 Milliarden Euro geschätzt und sollte bis 2022 mit einer jährlichen Rate von 5,5 Prozent wachsen. Doch die neuesten Daten der Branchendienste zeigen, dass der Umsatz allein im Laufe des Jahres 2020 um satte 40 Prozent auf ein 20-Jahreshoch von 18,3 Milliarden Euro beziehungsweise 22 Millionen verkauften Einheiten (unmotorisierte Fahrräder und Elektroräder) in den 27 EU-Staaten und Großbritannien gestiegen ist. Auch in Deutschland lag der Fahrrad- und E-Bike-Mengenabsatz 2020 mit 5,04 Millionen Einheiten gegenüber dem Vorjahr mit 16,9 Prozent im Plus.

Die kulturelle Veränderung: das Fahrrad als Vehikel für ein neues Bewusstsein und ein fröhliches, kommunikatives Miteinander im öffentlichen Raum. In München zeigten selbst die Geschäfte Flagge für die Radl-Hauptstadt. © Günther Innerebner Der durchschnittliche Verkaufspreis pro Fahrrad (inklusive E- Bikes) lag in 2020 bei stolzen 1.279 Euro – und wird laut ZIV (Zweirad-Industrie-Verband) von dem hohen E-Bike-Anteil dominiert. Der Export von Fahrrädern und E-Bikes wuchs 2020 gegenüber dem Vorjahr um 7,9 Prozent auf 1,57 Millionen Einheiten. Auch im Tourismus zeigt sich die ökonomische Bedeutung des Fahrrads. In der EU werden etwa 2,3 Milliarden Radreisen pro Jahr gezählt, was einem wirtschaftlichen Gesamtwert von 44 Milliarden Euro und 525.000 Arbeitsplätzen entspricht.

Last but not least ist jetzt aber auch der Transportsektor „auf das Rad gekommen": Lastenräder haben der ECF zufolge das Potenzial, 23 bis 25 Prozent der gewerblichen Lieferungen in Städten, 50 Prozent der gewerblichen Service- und Wartungsfahrten und 77 Prozent der privaten motorisierten Logistikfahrten (Shopping, Freizeit, Kindertransport) im urbanen Raum zu ersetzen. Und das ist noch nicht alles in Sachen Ökonomie: Laut Studien sind Fahrradfahrer*innen auch kaufkräftig, denn sie geben sowohl als Kund*innen wie auch als Tourist*innen mehr aus als diejenigen, die mit dem Auto anreisen. Und letztendlich zahlen sich die Radfahrer*innen auch für Kommunen aus: Das Fahrradparken ist flächenbezogen fünfmal profitabler als Autoparkplätze.

Die soziale Dimension des Radfahrens – das Rad als Gleichheitsstifter
Begegnung im öffentlichen Raum: Fahrrad- Corso und Radlnacht, Cycle-Fashion-Show und Radlflohmarkt. Mit solchen Aktionen können Städte ihre Bürger*innen für das Fahrrad und eine neue Mobilitätskultur begeistern. © Kai Neunert Für die Anschaffung eines (einfachen) Fahrrades braucht es nur einen Bruchteil dessen, was für den Kauf sonstiger Verkehrsmittel, also beispielsweise eines Motorrades oder eines Pkws, aufgewendet werden müsste. Und sofern es zu keinem Diebstahl, Vandalismus oder Defekt kommt, fallen in der Zeit nach der Anschaffung nur mehr geringe Wartungskosten an. Dies führt zu großen Entlastungen des (Haushalts-)Budgets, wodurch Konsum und Investitionen in anderen Lebensbereichen möglich werden. Zum Thema Sozialinklusion ist anzumerken, dass Radfahren die Sichtbarkeit von Klassenunterschieden tendenziell verringert und somit als „Gleichheitsstifter" zu betrachten ist. Radfahrer*innen sind im öffentlichen Raum „tangibel", daher kann ein steigendes Radverkehrsaufkommen die Dichte an sozialer Interaktion und im Endeffekt ein sicheres Zusammenleben begünstigen.

Die ökologische Dimension des Radfahrens – das Rad als umweltfreundliches Verkehrsmittel
Radfahren ist Mobilität ohne schädigende Klimagase. Um die Treibhausgasemissionen zu senken, ist es daher sinnvoll, Fahrten des Pkw-Verkehrs auf den Umweltverbund zu verlagern. Der Verkehrsträgervergleich des Umweltbundesamtes zeigt, dass durch Rad- und Fußverkehr rund 140 Gramm Treibhausgasemissionen pro Personenkilometer gegenüber dem Pkw eingespart werden können.

In der Praxis bedeutet das beispielsweise, dass Berufspendler*innen, die je fünf Kilometer mit dem Rad zur Arbeit hin- und zurückfahren, durch Verzicht auf die Autonutzung im Jahr rund 300 Kilogramm CO2-Emissionen einsparen können. Auch bei Luftschadstoffen wie Feinstaub (PM10), Stickoxiden (NOx) etc. gilt der Straßenverkehr als einer der Hauptverursacher. Eine Möglichkeit, die Luftschadstoffe zu verringern, ist neben der Verkehrsvermeidung ebenfalls die Verkehrsverlagerung vom motorisierten Individualverkehr hin zum Rad- und Fußverkehr. Der Ressourcen- und Flächenverbrauch für das Fahrrad ist um ein Vielfaches geringer als der des Pkws. Das reduziert, wie bereits erwähnt, die Kosten für die Allgemeinheit, schont die Umwelt und steigert die Lebensqualität der Menschen, vor allem in den größeren Städten.

Die Gretchenfrage: Wie kann man mehr Menschen für die Verkehrswende begeistern?
Der Radl-Check: Die Sicherheit von Fahrrädern ist essenziell, da der Verkehr auf Straßen und Radwegen drastisch zugenommen hat. Besonders wichtig ist es nun, auch die Rücksichtnahme von Auto- und Fahrradfahrer*innen gegenüber Fußgänger*innen zu fördern. © Simone NaumannDie Antwort: Wir müssen die Entstehung einer neuen Kultur beschleunigen. Einige großartige Beispiele sind in München, Wien und Bozen zu sehen. In diesen Städten haben die Kom- munen und Regierungen erfolgreiche Initiativen finanziert, um eine fahrradfreundliche Mobilitätskultur zu fördern und zu schaffen. Initiativen, die von Veranstaltungen im öffentlichen Raum, wie der „Radlnacht" und dem „Radlstar"-Wettbewerb in München, über Image-Werbekampagnen bis hin zur Unterstützung von Projekten wie dem Fahrrad-Reparatur-Café reichen, rücken die Vorteile des Fahrrads in den Vordergrund. Die Berichterstattung in den lokalen Medien sowie die Zusammenarbeit von Akteur*innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft erhöhen die Wirksamkeit solcher Initiativen. Dem ganzheitlichen System des Radfahrens einen Wert zu geben, ist der Hauptzweck einer Fahrradförderungskampagne. Diese Intention hatte auch die glamouröse Radl&Fashion-Show in München, die elegante Outfits auf Fahrrädern zeigt.

Martin Blum, Chef der Mobilitätsagentur Wien und Vorreiter der Idee, Radmobilität mit öffentlicher Unterstützung zu fördern, startete die beeindruckende Kampagne Fahrrad-Wien. Dabei wurden sowohl bewährte Aktionen eingesetzt als auch neue Initiativen entwickelt, wie etwa die bunte RADpaRADe, eine karnevaleske Fahrradparade mit über 10.000 Teilnehmer*innen.

Förderung der Fahrradmobilität als kultureller Prozess
Der Mensch verhält sich gemäß seinen Werten, gemäß dem, was ihm wichtig ist. Initiativen wie die in München oder Wien sind Leuchtturmprojekte für die Beschleunigung einer fahrradfreundlichen Mobilitätskultur, die die Bedingungen für Radfahrer*innen verbessern und die Akzeptanz des Radverkehrs fördern. Kunst, Unterhaltung, Arbeit, Freizeit, Zusammenleben, die Nutzung des öffentlichen Raums, Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft – sie alle können nicht nur vom Fahrrad profitieren, sondern auch in die Fahrradkultur einbezogen werden. Das Fahrrad erlebt damit in modernen, postfossilen Gesellschaften ein Revival und wird in seiner Vielfalt Teil der urbanen Kultur. Nicht anders verhält es sich mit der Nachhaltigkeit: Auch sie muss Teil unserer Kultur, unseres Alltags und unserer schönsten Träume werden.


Günther Innerebner und Patrick Kofler 
entwickeln und kommunizieren nachhaltige Mobilitäts- und Tourismuskonzepte. Sie wollen das Fahrrad zum coolsten Ding auf Erden machen und betreuen Rad-Projekte von den Abruzzen bis nach Berlin. In Deutschland haben sie unter anderem das Land Baden-Württemberg sowie die Städte München, Hannover und Berlin begleitet.

Technik | Mobilität & Transport, 01.09.2021
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2021 mit Heft im Heft zur IAA Mobility - KRISE... die größte Chance aller Zeiten erschienen.
     
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