Die Rentenlüge
Warum die Generationengerechtigkeit nicht in Gefahr ist
Seit Jahren wird es uns immer wieder erzählt: Gute, auskömmliche Renten seien nicht mehr finanzierbar. Grund dafür sei die demografische Entwicklung. Doch dies ist falsch. Denn das Rentenpotenzial hängt vielmehr von einem anderen Faktor ab.
Das Rentenniveau müsse runter. Die demografische Ent- wicklung gebiete es uns. Arbeitgeberverbände und ihre Interessenvertreter, aber auch Wissenschaftler und die meisten Medien erzählen es uns. Es wird der Eindruck erzeugt, dass sich unser Land höhere Renten nicht mehr leisten könne. Die Volksparteien haben deutliche Verbesserungen der Renten nicht einmal mehr auf der Agenda. Das Ergebnis: Wer heute jünger als 30 Jahre alt ist, kommt gar nicht mehr auf den Gedanken, dass die gesetzliche Rente für einen guten Lebensabend reichen könnte. Und auch die meisten Älteren haben den Glauben daran längst verloren. Die große Rentenlüge hat funktioniert. Es wird längst akzeptiert, dass ein gutes Leben im Alter nur klappen kann, wenn man zuvor ordentlich privat vorsorgt.
Ungleich verteiltes Volksvermögen
Doch das alles ist Unsinn. Um dies aufzuzeigen, müssen wir den Meinungskrieg gegen mächtige Gegner aufnehmen. Wir müssen den Begriff von der Generationengerechtigkeit als hohle Phrase entzaubern, die letztlich nur der Verschleierung dient. Denn selbstverständlich ist dieses reiche Land in der Lage, allen Menschen eine gute Rente zu zahlen – auch allen Kleinverdienern.
Was wir nicht aus den Augen verlieren dürfen: Trotz mehrerer Finanzkrisen ist die Wirtschaftskraft dieses Landes in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen! Der Gewinn wurde allerdings nicht für gute Renten genutzt: Obwohl das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sowie der Anteil der Alten gestiegen ist, sank der Anteil der Renten am BIP. Die meisten Spitzenverdiener dagegen beteiligen sich so gut wie gar nicht an der solidarischen Rente und zahlen keinen Cent in die Rentenkasse. Keine Regierung wollte das bislang ändern. Vielmehr sicherten alle Bundesregierungen seit der Jahrtausendwende den Arbeitgebern dauerhaft niedrige Beiträge zu. Die Last tragen die versicherungspflichtig Beschäftigten. Sie werden mit Rentenkürzungen bestraft. Und wer jahrelang nur wenig verdient hat, dem reicht die Rente oft kaum zum Überleben.
Demografie als Vorwand
Einen expliziten Angriff auf die Renten betreibt etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Sie ist eine PR-Truppe der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie. Mit tendenziösen Studien versucht sie immer wieder, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ihr Mantra: Höhere Renten kosten Wachstum und Wohlstand; stattdessen soll mehr private Vorsorge betrieben werden. Der eigentliche Grund für diesen Kampf gegen die Renten ist durchschaubar: Die Arbeitgeber wollen möglichst niedrige Rentenbeiträge zahlen. Das Demografie-Argument, also zu viele Alte, zu wenige Junge, dient hierfür nur als Vorwand.
Wer die demografische Entwicklung als Begründung anführt, hätte nahezu jeden Zeitpunkt in den vergangenen 100 Jahren heranziehen können, um das nahe Ende der gesetzlichen Rente zu prophezeien. Die Geburtenzahlen sinken nämlich schon sehr, sehr lange – nur unterbrochen von einem Geburtenboom zwischen 1955 und 1970. Somit sank auf lange Sicht auch das Verhältnis von Jungen im erwerbsfähigen Alter zu den Alten im Rentenalter beständig: von einem Verhältnis von über 10:1 im Jahr 1910 bis auf aktuell knapp 3:1. Der demografische Wandel findet also schon lange statt, ohne dass es zu einem Zusammenbruch des Rentensystems gekommen wäre.
Und dennoch verlässt viele in der Rentenfrage schnell der Mut und es kommen leise Zweifel: Sind wir nicht wirklich viel zu viele, die demnächst eine Rente wollen? Werden die Jungen – Stichwort „Generationengerechtigkeit" – dadurch nicht maßlos überfordert?
Der eigentliche Schlüsselfaktor: die Wirtschaftskraft
Um es deutlich zu sagen: Wichtiger als das Verhältnis von Alten zu Jungen ist, wie sich die Wirtschaftskraft entwickelt, also die Frage, wie viel es zu verteilen gibt. Wenn sich eine steigende Wirtschaftskraft in steigenden Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer niederschlägt, so war und ist die Versorgung von mehr Rentnern kein Problem. Und wer Jung gegen Alt gegeneinander ausspielt, will nur vom eigentlichen Konflikt ablenken, der sich zwischen Reich und Arm abspielt. Die Rezepte liegen auf dem Tisch: Wir brauchen ein System, das die Leistungsfähigkeit dieses reichen Landes wirklich anzapft, brauchen gute Beschäftigung und bessere Löhne. Außerdem sollen alle einzahlen, also auch Politiker, Beamte, Selbstständige, Freiberufler und Topmanager. Konsequent umgesetzt lässt sich der Niedergang der gesetzlichen Rente korrigieren, der Ende der 1980er Jahre Fahrt aufnahm und sich mit der Riester-Rentenreform 2001 beschleunigte. Dass das funktionieren kann, belegt der Blick in europäische Nachbarländer wie Österreich oder die Schweiz. Nur wenn wir diese Wende zu besseren Renten schaffen, hat die gesetzliche Rente eine gute Zukunft. Wird sie weiter kaputtgespart, verliert sie zunehmend ihre Legitimation und die Jungen würden dann wirklich mit allem Recht fragen: Wozu sollen wir noch einzahlen?
Retter als Täter
In die Existenzkrise geriet die Rente paradoxerweise erst durch ihre selbst ernannten Retter Gerhard Schröder, Walter Riester und all die anderen Politiker, die zur Jahrtausendwende willig den Interessen der Finanzwirtschaft folgten. Ihr Glaubensbekenntnis lautete:
- Die Rentenbeiträge seien überhöht und schuld an der hohen Arbeitslosigkeit.
- Die private, sogenannte kapitalgedeckte Geldanlage biete eine erheblich höhere Rendite.
- Die gesetzliche Rente werde an der Alterung der Gesellschaft scheitern.
Alle drei Annahmen waren falsch, doch Schröder und Riester setzten ihre Reform durch und schalteten ihre Kritiker gezielt aus. Sie kreierten ein Dreisäulenmodell aus gesetzlicher Rente, betrieblicher Rente und Riester-Rente. Knapp 20 Jahre später wissen wir: Es funktioniert nicht. Die von der Finanzwirtschaft bereitgestellten Vorsorgeprodukte der zweiten und dritten Säule liefern klägliche Ergebnisse. Ohne die staatlichen Zuschüsse lägen ihre Renditen in der Regel tief im Minus. Und das liegt keineswegs nur an der Niedrigzinsphase. Es sind die gigantischen Kosten, die die Versicherer ihren Kunden in Rechnung stellen, die bessere Ergebnisse unmöglich machen. Jahr für Jahr mindern Vertriebs- und Verwaltungskosten in Höhe von rund neun Milliarden Euro die Sparleistung der Kunden.
Das alles sieht beim Non-Profit-Unternehmen Deutsche Rentenversicherung ganz anders aus. Hier verdienen keine Aktionäre, hier muss kein Heer von Außendienstmitarbeitern finanziert werden. Die Kosten sind mit 1,3 Prozent der Ausgaben sehr gering. Und ob die Zinsen am Kapitalmarkt hoch oder niedrig sind, kann der Rentenkasse praktisch egal sein. Sie verteilt die Einnahmen aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen sowie Bundesanteilen direkt um. Als Alters- und Hinterbliebenenrenten, Erwerbsminderungsrenten und als Krankenkassenbeiträge für die Rentner. Auch die Jungen profitieren, da die Rentenkasse darüber hinaus Reha-Maßnahmen bezahlt, um die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Das ist ein Leistungspaket, welches Allianz und Co. privat niemals in dieser Form bereitstellen könnten.
Die Qualität der Rentenkasse
Alle ökonomischen Rahmendaten untermauern, dass die Basis für gute Renten seit Jahren exzellent ist. Die Einnahmen der Rentenkasse wachsen seit Jahrzehnten kräftig, Jahr für Jahr. Und die Rücklagen erreichten Ende 2019 einen neuen Rekordstand. Selbst in Zeiten von Börsencrash und Finanzkrise ging es stetig nach oben. Ein Grund: Bis zur Coronakrise stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten jahrelang an. In den vergangenen zehn Jahren kamen fast sechs Millionen Beschäftigte hinzu. Zwar hat auch die Zahl der Rentner zugenommen, doch das Verhältnis von Einzahlern zu Rentenbeziehern ist heute deutlich günstiger als etwa vor 20 Jahren. Auch das Bruttoinlandsprodukt, aus dem letztlich aller Sozialaufwand finanziert werden muss, stieg bis zur Coronakrise mit einer beeindruckenden Konstanz an. Wer die Daten der Deutschen Rentenversicherung nüchtern analysiert, stellt fest, dass alle noch vor einem Jahrzehnt gemachten ökonomischen Prognosen krass danebenlagen: Die Zahl der Beitragszahler liegt um 17 Prozent höher, die Zahl der Arbeitslosen um 34 Prozent niedriger und der Beitragssatz um fast einen Prozentpunkt niedriger als erwartet. Wir sind davon überzeugt, dass dies auch für die Zukunft gelten wird.
Viel Potenzial für gute Renten
Die ökonomischen Grundlagen für bessere Renten sind also vorhanden. Das belegt auch das Portal „Fakten zur Rente", welches das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit dem Sommer 2019 auf seiner Internetseite präsentiert. Unter dem Titel „Ist die Bevölkerungsentwicklung eine Gefahr für das Sozialsystem?" findet sich eine eindrucksvolle Grafik. Sie zeigt, dass die Last, die unsere Gesellschaft für die nicht arbeitenden Alten und Jungen tragen muss, heute deutlich niedriger ist als in den vermeintlich goldenen 1970er Jahren. Denn es gibt zwar mehr Alte als früher, doch es gibt eben auch einen stark sinkenden Anteil junger Menschen. So kann von einer demografischen Überlastung keine Rede sein. Dennoch fällt für die Alten in unserer Gesellschaft erstaunlich wenig ab.
Unterstrichen wird diese schwache deutsche Position durch die Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Hier landet Deutschland mit einer Lohnersatzquote von kümmerlichen 39 Prozent auf einem hinteren Platz, abgeschlagen hinter Ländern wie Luxemburg (79 Prozent), Österreich (77 Prozent) oder Dänemark (74 Prozent). Eine Lohnersatzquote von 39 Prozent bedeutet, dass ein deutscher Arbeitnehmer später mit einer Rente rechnen kann, die nur 39 Prozent seines durchschnittlichen früheren Bruttoeinkommens ausmacht. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.
HOLGER BALODIS UND DAGMAR HÜHNE
Holger Balodis und Dagmar Hühne forschen und berichten seit über 30 Jahren zu den Themen Rente und Altersvorsorge. Sie waren Fachautoren für TV-Magazine, haben Ratgeber für Stiftung Warentest und die Verbraucherzentralen geschrieben sowie zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter den Spiegel-Bestseller „Die Vorsorgelüge: Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben".
Die schmutzigen Geschäfte mit der kapitalgedeckten Altersvorsorge
Unvorstellbare 1,5 Billionen Euro legen Pensionskassen und Versicherer insgesamt für die Altersvorsorge am Kapitalmarkt an. Während dieses Geld an so vielen Stellen gebraucht werden würde, landet es hier also im internationalen Finanzcasino, wo es dem Druck ausgesetzt ist, vermehrt zu werden. Doch was passiert eigentlich mit diesem Geld? Die Doku „Schmutzige Geschäfte mit unserer Rente" der ARD von 2020 ging dieser Frage nach. Das Ergebnis: Ein beträchtlicher Teil dieser Rentengelder fließt in klimaschädliche Projekte, befeuert Immobilienspekulationen oder finanziert gar die Rüstungsindustrie.
Dazu kommt das persönliche Risiko. Durch die niedrigen Zinsen ist die Verzinsung der eingezahlten Gelder auf risikolose Art derzeit nicht möglich. Das führt wiederum dazu, dass manche Versicherer die Altverträge, die sich für sie nicht mehr lohnen, an sogenannte „Run-Off-Gesellschaften" verkaufen (so zum Beispiel geschehen bei dem Versicherer Generali). Das hat drastische Folgen für die Versicherten. Axel Kleinlein, Vorstandssprecher vom Bund der Versicherten (BdV), sagt dazu: „Wir befürchten, dass das neue Unternehmen alle Möglichkeiten und Tricks ausschöpfen wird, um die Kundinnen und Kunden möglichst schlecht mit Überschüssen zu bedienen." Immerhin verfügen die kleineren Abwicklungsgesellschaften meist nicht über dieselbe Kapitalausstattung wie die großen Versicherer – müssen aber dennoch ihren Zinsverpflichtungen nachkommen. Philipp Opfermann von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen warnt: „Im schlimmsten Falle können auch die, Run-Off-Gesellschaften‘ insolvent werden – so wie jeder andere Versicherer auch."
Von Alrun Vogt Deutliche Worte eines Professors
Auf die falsch verstandene Generationengerechtigkeit macht schon seit Jahren der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge aufmerksam. In einem Aufsatz, den er anlässlich einer Anhörung im hessischen Landtag 2004 zu dem Thema verfasste, macht er deutlich, dass die Möglichkeit der Versorgung der Nichterwerbstätigen von der Arbeitsproduktivität abhängt. Da durch den technischen Fortschritt die Arbeitsproduktivität pro Kopf ansteigt, könne von einer Überforderung der Gesellschaft durch den demografischen Wandel keine Rede sein. Unvertretbar nennt er, was Hans-Werner Sinn als Präsident des ifo Instituts forderte: Nur wer mindestens drei Kinder großzieht und durchschnittliche Beiträge gezahlt hat, dem könne die umlagefinanzierte Rente im bisher erwarteten Umfang erhalten bleiben. Diese Konzeption, so Butterwegge, beruhe auf einer „biologischen Produktionstheorie", die so tut, als sei die menschliche Fortpflanzung der Ursprung eines wachsenden gesellschaftlichen Reichtums. Diese Theorie stehe mit den Verhältnissen einer modernen, auf Kapital-und Wissensakkumulation basierenden Volkswirtschaft jedoch kaum in Einklang. Wäre die demografische Rentenlüge wahr, träfe sie in gleicher Wucht die kapitalgedeckte Rente. Denn jeder Sozialaufwand beziehungsweise jede Rente müsse immer aus dem laufenden Bruttosozialprodukt erwirtschaftet werden. Niemand wolle schließlich im Alter Zinsgutschriften essen.
Butterwegge vermutet, dass die demografische Entwicklung deshalb dramatisiert wird, um von der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung abzulenken. Die Kluft zwischen Kapital und Arbeit werde künstlich durch einen neuen Grundwiderspruch, nämlich zwischen Jung und Alt, abgelöst. Und Butterwegge fordert: „Was fehlt, ist eine soziale Umverteilung von oben nach unten, die der Bekämpfung von öffentlicher und privater Armut dient. Unabhängig vom Lebensalter muss die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Bürgers wieder entscheiden, in welchem Maß er zum Allgemeinwohl beiträgt."
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