Voluntourismus – wie macht Reisen und Helfen Sinn und wo sind die Grenzen?
TourCert bietet als Vorreiter Kriterien zur Bewertung der Angebote
Ob eine mehrtägige Strandreinigungsaktion im Anschluss an den Tauchurlaub in der Karibik, ein vierwöchiger Hilfseinsatz in einer Tierklinik in Südafrika oder die nachmittägliche Kinderbetreuung in einem Straßenkinderprojekt am Rande einer Sprachreise – die Kombination aus Freiwilligenarbeit und Tourismus, der sogenannte Voluntourismus boomt. Das Beratungs- und Zertifizierungsunternehmen TourCert gGmbH hat für Reiseveranstalter Kriterien zur Bewertung der Angebote entwickelt.
Mehr als 20.000 Deutsche begeben sich jedes Jahr für einen Freiwilligeneinsatz in ein Entwicklungs- oder Schwellenland. Etwa 8000 für einen einjährigen Aufenthalt und schätzungsweise mehr als 15.000 für kurzzeitige Einsätze, die von Reiseveranstaltern angeboten werden. Der Begriff Voluntourismus setzt sich aus den Worten „Volontariat" für einen zeitlich begrenzten, meist unentgeltlichen Freiwilligendienst und „Tourismus" zusammen und beschreibt somit einen freiwilligen Arbeitseinsatz auf Reisen. Da hier Überschneidungen zwischen entwicklungspolitischen Zielen und erlebnisorientierten Freizeitaktivitäten entstehen, wird diese Art von Reisen oft kontrovers diskutiert und kritisch betrachtet.
Der Trend zum Freiwilligentourismus hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Wirtschaftsakteure sind dabei Reiseveranstalter, die entsprechende Angebote hierfür entwickeln. Durch das steigende Interesse am Freiwilligentourismus, hat TourCert sich diesem aktuellen Thema angenommen und innerhalb der Zertifizierung für Reiseveranstalter einen Produktcheck entwickelt. In Zusammenarbeit mit Tourism Watch/Brot für die Welt und gemeinsam mit ausgewählten Experten aus dem TourCert Zertifizierungsrat wurde ein Team zusammengestellt, um der Nachfrage von Reiseveranstaltern nach einer Bewertung dieses Reisekonzepts nachzukommen. Mithilfe von Kriterien und Checks kann TourCert nun interessierte Reiseveranstalter untersuchen.
Projektarten & Tätigkeitsbereiche
Für Freiwillige bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, die jedoch unterschiedlich bedenklich sind. Beispielsweise eine Reinigungsaktion am Strand, die ein paar Tage dauert, ist hierbei sicherlich sehr sinnvoll und nützlich. Sobald die Freiwilligeneinsätze jedoch mit Menschen oder Tieren zu tun hat, sollten die Einsätze genau bedacht werden. Die Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen wie z. B. Menschen mit körperlicher Behinderung, Flüchtlingen oder Arbeitslosen, kann durchaus unbedenklich sein, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehört, dass die aufnehmende Organisation ausgebildetes Fachpersonal hat, unter dessen Anleitung die Freiwilligen unterstützend zur Seite stehen.
Angebote im sozialen Bereich beinhalten immer wieder sehr umstrittene Projekte, wie die Mithilfe in einem Waisenhaus oder die Unterstützung von Menschen mit psychischer Erkrankung. Diese sollten nicht von Freiwilligen betreut werden.
Ein weiteres typisches Handlungsfeld ist der Tier- und Naturschutz. Beliebt sind hierbei sog. Farmstays, Hilfe bei der Schildkrötenrettung oder umweltschonende Recyclingprojekte. Bei Tieren und Wildtieren, die bspw. in einer Auffangstation gehalten werden ist ebenfalls Vorsicht geboten. Der Mensch sollte nicht zu sehr in den natürlichen Lebensraum eingreifen und die Distanz zu den Tieren bewahren. Vorsicht gilt auch bei der Betreuung von Tieren, die Auffälligkeiten in ihrem Verhalten zeigen können.
Allgemein ist immer zu beachten, dass die kostenfreien Tätigkeiten der Freiwilligen nicht in Konkurrenz zu bezahlten Jobs vor Ort stehen und so Arbeitsplätze vernichtet werden. Insgesamt gilt: Gut organisierter und durchdachter Voluntourismus kann durchaus wertvoll und hilfreich sein und vor Ort sogar Arbeitsplätze, z.B. für die qualifizierte Betreuung der Freiwilligen oder für Reiseführer, die Wochenend-Angebote für die Freiwilligen entwickeln, schaffen. Wichtig dabei ist, dass sich der Einsatz von Freiwilligen nicht negativ auf die Zielregion und die Beteiligten auswirkt.
Qualitätsanforderungen & Betreuung vor Ort
Eine der wichtigsten Fragen bei der Beurteilung von Voluntourismus-Angeboten stellt sich bereits bei der Produktentwicklung: Orientiert sich das Angebot am tatsächlichen Bedarf vor Ort? Wenn Freiwillige für wenige Wochen ihren eigenen Wissensstand in Schulen vermitteln, stellt sich die Frage, ob die Kinder davon tatsächlich profitieren. Außerdem werden hierbei wichtige Arbeitsplätze besetzt, die sonst lokale Lehrer als Einkommensquelle hätten. Deshalb sind eine fundierte Analyse und ein Konzept für langfristigen Mehrwert besonders wichtig, Welche Ziele verfolgt die anbietende Organisation im lokalen Umfeld und wie tragen konkrete Maßnahmen der Freiwilligenarbeit dazu bei?
Verantwortungsvolle Reiseaufenthalte lassen sich am ehesten durch einen möglichst langen Aufenthalt und Kontakt mit den Einheimischen und deren Kultur gestalten. Laut einer Studie von Tourism Watch sind die Mehrheit der Angebote schon ab zwei Wochen Dauer buchbar. TourCert empfiehlt Anbietern eine möglichst lange Aufenthaltszeit, in der sich die Besucher eingewöhnen und aktiv werden können. Leitlinien und Qualitätsanforderungen helfen dabei, dass der Freiwilligeneinsatz eine sinnvolle Unterstützung vor Ort bereitet. Weiterhin ist zu prüfen, ob geschulte Festangestellte als Hauptverantwortliche in den Projekten agieren und die Freiwilligen anleiten können.
Vorbeugende Maßnahmen
Zur Vermeidung von negativen Auswirkungen ist eine Eignung der Reisenden und Qualifikation der Betreuenden zu prüfen. Dadurch kann vermieden werden, dass ungelernte Helfer mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten und deren Vertrauensängste oder Bindungsschwierigkeiten durch einen kurzzeitigen Aufenthalt noch verstärken. TourCert hat sich bewusst dafür entschieden, den sogenannten „Waisenhaus-Tourismus" auszuschließen, und zertifiziert Reiseveranstalter mit Einsatzangeboten in Waisenhäusern nicht. Diese Einrichtungen stehen in vielen Ländern in Zusammenhang mit Kinderhandel und Arbeitsausbeutung und einer hohen Gefahr der sexuellen Ausbeutung.
TourCert legt bei den Kriterien Wert darauf, dass die Reisenden anhand von Informationen und Handlungsempfehlungen zur Begegnung mit sensiblen Bevölkerungsgruppen vorbereitet werden. Es sollten bei der Bewerbung Dokumente gefordert werden, die eine Eignung des Freiwilligen nachweisen Eine umfangreiche Vorbereitung bspw. durch Informationsmaterial, Webinare oder entsprechende Kurse, ist zwingend notwendig. Der Schutz von Kindern sollte integraler Bestandteil aller Angebote im Voluntourismus sein und in klaren Richtlinien beschrieben werden. Auch Vorschriften zum Schutz von Tieren, Umwelt und Biodiversität sollten bestehen und mit den Partnern (vertraglich) vereinbart werden.
Anreise & Unterkunft
Die Zielregionen sind häufig weit entfernte Länder und es besteht der Anreiz für Freiwillige, eine Reise anzuhängen. Im Bereich Transport und Mobilität sollten Anbieter umweltfreundliche Anreisemöglichkeiten und die Kompensation von Flugreisen empfehlen, um auch ökologischen Anforderungen gerecht zu werden. TourCert setzte voraus, dass Anbieter langfristige lokale Partnerschaften anstreben, die sorgfältig ausgewählt werden.
Dies gilt auch für Unterkünfte in einer Gastfamilie oder Herberge, die den Freiwilligen bereitgestellt werden.
Bei der TourCert Befragung wird auch das Marketing unter die Lupe genommen. Dieses ist frei von klischeehaften Abhängigkeitsbeziehungen des Globalen Südens zu gestalten. Es gilt für die Anbieter, weniger mit armutsorientiertem Bildmaterial, sondern mit einer klaren Kommunikation zu den anfallenden Tätigkeiten zu überzeugen. Es sollte zudem ersichtlich sein, welche beteiligten Organisationen von der geleisteten Arbeit profitieren und ob der Reisepreis zur Förderung der Destination verwendet wird.
Nachbereitung
Wichtig ist vor allem, eine Rückmeldung einzuholen und den Einsatz gemeinsam zu besprechen. Anhand einer Nachbereitung der Reise mit Fragebögen, Telefonat bzw. persönlichem Gespräch, kann der Veranstalter sichergehen, dass Freiwillige vor Ort gut betreut werden. Auch die verantwortliche Organisation vor Ort sollte regelmäßig Feedback über den Projektablauf geben. Eine transparente Berichterstattung bietet auch weiteren Interessierten eine authentische Orientierungshilfe. Hierfür können zum Beispiel Erfahrungsberichte auf einem Blog eingestellt werden.
Mit den Angeboten soll das entwicklungspolitische Interesse der Freiwilligen geweckt werden. Viele engagieren sich auch nach ihrer Rückkehr für das Gastland oder das Thema ihres Aufenthalts.
Quelle: TourCert gGmbH
Lifestyle | Sport & Freizeit, Reisen, 26.09.2019
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