Ist Ihnen (gemein) wohl?
Die Gemeinwohl-Bilanzierung findet immer mehr Anhänger.
forum fragt mittelständische Unternehmen in Deutschland und Österreich nach ihren Erfahrungen mit der Bilanzierung und mit der Wirkung im und für das Unternehmen.
Der Neueinsteiger: Die Lebenshilfe Tirol
Sie wurde 1963 gegründet und ist inzwischen der größte soziale Dienstleister Tirols, mit Sitz in Innsbruck. Neben den 1.050 fest angestellten MitarbeiterInnen* werden die Projekte auch durch die Arbeit von 1.600 Menschen mit Behinderung realisiert. Die Themen reichen von Kind und Familie über Freizeit und Wohnen bis hin zu Arbeit. Die Lebenshilfe Tirol setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen als selbstbestimmte und gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft ein erfülltes Leben und ihren Platz finden können. Der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol,Georg Willeit, berichtet von seinen Erfahrungen mit der ersten Gemeinwohl-Bilanz.
Was hat sich durch den Prozess der Einführung einer Gemeinwohl-Bilanzierung im Unternehmen bereits konkret verändert?
Der vielschichtige Blick nach innen trägt zur Organisationsentwicklung bei. Das genaue Hinschauen wirkt Betriebsblindheit entgegen. Konkrete Maßnahmen wie beispielsweise die Anschaffung von gasbetriebenen PKWs, die Entwicklung eines Abfallkonzepts oder die stärkere Einbeziehung von MitarbeiterInnen und Menschen diesbezüglich sind erfolgt. Aber auch in Bezug auf Transparenz und Demokratisierung der Organisation gehen wir erste neue Schritte: verstärkte interne Kommunikation, Zugänglichkeit von Protokollen, geänderte Besprechungsstruktur.
Welchen Stellenwert hat die Gemeinwohl-Bilanz in Ihrem Unternehmen erlangt?
Da wir das erste Mal bilanziert haben, ist die Wirkung im gesamten Unternehmen noch gering. Bislang sind von unseren MitarbeiterInnen vor allem die Führungskräfte damit beschäftigt. Bei der nächsten Bilanzierung wird die Einbeziehung weiter greifen. Auswirkungen sind aber bereits jetzt für alle bemerkbar. Vor allem nach außen hat die Gemeinwohl-Bilanz große Wirkung. Partner und Geldgeber schätzen die Öffnung der Organisation und die Übernahme von Verantwortung. Aus meiner Sicht haben gerade große NGOs mit der Gemeinwohl-Bilanz die Chance, ihre Wirkung, ihre Nachhaltigkeit und die gesellschaftliche Verantwortung verstärkt und deutlich darzustellen.
Wie schätzen Sie die Wirkung der Gemeinwohl-Bilanz für Ihr Unternehmen ein?
Mehr Transparenz und Beteiligung nach innen, Stärkung der Organisation über den eigentlichen Aufgabenzweck hinaus und Imagegewinn als positive Arbeitgebermarke. Unsere MitarbeiterInnen sind stolz darauf, dass die vielfältige Wirkung der Organisation sichtbar und die Lebenshilfe Tirol als transparente, gesellschaftlich relevante und innovative Organisation erkannt wird.
Welchen Tipp möchten Sie UnternehmerInnen mitgeben, wenn sie sich mit der Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz befassen?
Den Schritt überhaupt zu gehen. Klein beginnen. Bei der ersten Bilanzierung offen, ehrlich und ungeschönt den Status der Organisation abbilden – denn nur so werden die Entwicklungspotenziale wirklich sichtbar sowie Vernetzung und Austausch forciert. Erste Veränderungen einleiten und sich auf weitere Bilanzierungen vorbereiten.
Die Erfahrene: Die Bäckerei Märkisches Landbrot
Sie wurde 1930 gegründet und backt seit 1992 in Demeter-Qualität. Mit 49 Mitarbeitern werden 1.600 Tonnen Getreide verarbeitet und etwa sechs Millionen Euro in Neukölln, Berlin, erwirtschaftet. Mindestens zehn Prozent des Gewinns werden gemäß dem Motiv „Es gibt immer einen Anfang für das Bessere" in soziale, Hoffnung spendende Projekte im Kiez, in der Region und in der Welt investiert. Bio-Pionier und Geschäftsführer Christoph Deinert berichtet von seinen Erfahrungen nach vier Jahren Bilanzierung und zwei erfolgreich erstellten Bilanzen.
Was hat sich durch den Prozess der Einführung einer Gemeinwohl-Bilanzierung im Unternehmen bereits konkret verändert?
Nachdem Joachim Weckmann 1981 die Lieferbäckerei Märkisches Landbrot kaufte, wurde sie schrittweise auf eine nachhaltige Wirtschaftsweise umgestellt. Heute hat die Demeter-Brotbäckerei ein nach EMAS zertifiziertes Umweltmanagementsystem und wirtschaftet im Rahmen der Charta fair & regional Bio Berlin-Brandenburg des Märkischen Wirtschaftsverbundes. Darüber hinaus berichten wir nach GRI (Global Reporting Initiative) und dem DNK (Deutscher Nachhaltigkeitskodex) und werden 2015 die zweite auditierte Gemeinwohl-Bilanz veröffentlichen. Die erste Gemeinwohl-Bilanz (Bilanzjahr 2011) war eine Bestandsanalyse des bereits Geleisteten. Da sie das einzige uns bekannte Instrument ist, das es ermöglicht, Nachhaltigkeit in allen Bereichen branchenübergreifend vergleichbar und in einem Punktesystem für jeden Laien verständlich zu machen, nutzten wir das Bilanzergebnis, um Schwachstellen in unserer Wirtschaftsweise aufzudecken.
Vor allem der Indikator Innerbetriebliche Demokratie und Transparenz hat uns in unserem Ziel, Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse einzubinden, bestärkt. Inzwischen haben wir die mehrmals jährlich stattfindenden Treffen zwischen den Mitarbeitern und den Führungskräften so ausgerichtet, dass der Freiraum, in dem Wünsche und Vorschläge aktiv eingebracht werden können, im Zentrum steht. Auch versuchen wir in unseren verschiedenen Gesprächsrunden konsensuale Entscheidungen herbeizuführen.
Welchen Stellenwert hat die Gemeinwohl-Bilanz in Ihrem Unternehmen erlangt?
Für uns bietet die GWÖ ein Mittel zum Stakeholder-Dialog. Die Indikatoren werden von engagierten Menschen aus der Gesellschaft entwickelt und bilden für uns die Erwartungen der Gesellschaft an die Wirtschaft, also an uns ab. Märkisches Landbrot misst sich alle zwei Jahre an diesen Indikatoren und gibt das Ergebnis der Messung in Form der Gemeinwohl-Bilanz als Veröffentlichung wieder an die Gesellschaft zurück. Viele Menschen sind so über unsere Entwicklung informiert und können einschätzen, welche gesellschaftlichen Erwartungen ihre Brotbäckerei erfüllt.
Auch eigene Mitarbeiter haben an den Betrieb Erwartungen. Die Bilanz kann hier helfen, die Nachhaltigkeits-Performance des Unternehmens mit anderen Unternehmen zu vergleichen, um einzelne Kennzahlen besser bewerten zu können. Mit der Bilanz 2011 haben wir erstmals die Lohnstruktur von MÄRKISCHES LANDBROT nach innen und außen veröffentlicht. Mit einem Mindestlohn von zehn Euro, einer Bezahlung zwischen Bäckerhandwerk- und Industrietarif und dem Verhältnis von 1 : 5 zwischen dem im Betrieb am wenigsten verdienenden Mitarbeiter zu dem am besten bezahlten Mitarbeiter ist die Lohnstruktur in drei Sätzen beschrieben. Das hat innerbetrieblich zu einer hohen Transparenz und auch Akzeptanz geführt.
Neben den Zielen für eine Dekade erarbeiten die Geschäftsführer jährlich die Ziele für das neue Jahr. Hier fließen Erkenntnisse aus unserer jährlichen Ökobilanz, aus den dreijährlichen Mitarbeiterumfragen, den Jahresmitarbeitergesprächen, den verschiedenen überbetrieblichen Arbeitskreisen mit Verbänden und NGOs und aus der Gemeinwohl-Bilanz ein.
Wie schätzen Sie die Wirkung der Gemeinwohl-Bilanz für Ihr Unternehmen ein (kurzfristig und langfristig)?
Kurz- und mittelfristig ist die GWÖ für uns so eine Art „Transparenzmaschine". Auf der einen Seite erfahren wir über die Indikatoren, welche Messlatte die Gesellschaft an uns legt, also welche Erwartungen sie an uns als Teil der Wirtschaft stellt. Auf der anderen Seite informieren wir über die auditierte Gemeinwohl-Bilanz, inwieweit wir diese Erwartungen erfüllen. So entsteht ein Dialog, der ein nachhaltiges Wirtschaften fördert. Bis 2018 werden wir – auch im Sinne einer Gemeinwohl-Orientierung – prüfen, ob Märkisches Landbrot in eine Stiftung umgewandelt wird.
Die Vision der GWÖ, eine hohe Nachhaltigkeits-Performance mit Steuererleichterungen oder Ähnlichem zu belohnen, wird die Akzeptanz dieses Instrumentes weiter erhöhen.
Ich glaube, es ist gesellschaftlicher Konsens, dass wir nur wirtschaften dürfen, ohne die Erde über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus zu belasten. Die GWÖ ist dabei ein erster Schritt zu einer überfälligen Einbeziehung von Umwelt- und Sozialfolgekosten in die Finanz-Bilanzierung und damit zur steuerlichen Bewertung von Unternehmen. So würden einerseits konventionelle Unternehmen nicht mehr auf Kosten der Steuerzahler Gewinne erzielen können und die Wettbewerbsvorteile gegenüber nachhaltigen Unternehmen würden aufgehoben. Andererseits hätten politische Akteure ein Instrument, mit dem sie die Nachhaltigkeit von Unternehmen steuern könnten.
Welchen Tipp möchten Sie UnternehmerInnen mitgeben, wenn sie sich mit der Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz befassen?
Neueinsteigern rate ich dazu, die GWÖ vor allem als Anregung oder Denkanstoß für ein nachhaltiges Wirtschaften zu verstehen, nicht als festes Punktesystem; als Stakeholder-Dialog, der aufzeigt, was die Gesellschaft von uns erwartet. Abschreckend auf den ersten Blick wirkt vor allem der Aufwand zur Bearbeitung des Indikators zur Beschaffung. Wenn wir uns aber vor Augen führen, dass wir als Käufer von Rohstoffen oder Produkten mit dem Kauf jeden Tag neu entscheiden, welche Produktionsweisen wir unterstützen wollen, dann wird einem klar, dass der Indikator Beschaffung einer der wichtigsten Indikatoren in der Bilanz ist. In einer schnellen Verbesserung dieses Indikators liegt gesellschaftlich ein großes Potenzial, das in vielen Fällen auch ohne großen Aufwand oder Mehrkosten geschöpft werden kann.
Von Johannes Fleischmann
Gesellschaft | Social Business, 01.04.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2015 - Nachhaltige Mode erschienen.
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