Was heißt hier „Moralgefängnis“?
Der aktuelle Kommentar von Michael Andrick
In öffentlichen und privaten Diskussionen scheint ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zu kontroversen Themen seit einiger Zeit fast unmöglich. Woran liegt das? Und was können wir daran ändern?
Bei jeder größeren Streitfrage hat sich in den Medien in den letzten Jahren eine besondere Umgangsweise etabliert: Bestimmte Ansichten werden sehr schnell als gut und richtig, alle anderen aber als irgendwie verdächtig oder falsch behandelt. Gleichzeitig werden öffentlich vermehrt Kontaktschuld-Vorstellungen („Wer mit Rechten auf die Straße geht…") gepflegt, so als bedeute schon der Umgang mit jemandem, sich seine Ansichten zu eigen zu machen oder sich gar mit seinen Zielen zu solidarisieren.
Ohne eine streitfreudige Gesprächskultur kann Demokratie nicht funktionieren, sagt Philosoph Michael Andrick. © OpenClipart-Vectors, pixabay.comAll das hat dazu geführt, dass sich eine allgemeine Vorsicht in Bezug auf Meinungsäußerungen breitgemacht hat. Umfragen belegen dies: Im Osten der Republik meinten Anfang 2023 nur noch 43 Prozent, man könne seine Meinung frei sagen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten (2020: 50 Prozent); im Westen sind es noch 58 Prozent. In den 70er und 80er Jahren lag der Wert noch um 80 Prozent.
Warum? Warum sollte die Vielfalt von Standpunkten ein Problem sein? Ist Demokratie nicht eigentlich friedliche Streitverwaltung? Und brauchen wir nicht Streit, um etwas zu lernen?
Was ist Moralisierung?
Der Grund ist eine Infektion der Kommunikationswege mit einem Erreger, den ich Moralin nenne: Gemeint ist damit eine aktive, aber nicht immer absichtliche Moralisierung von Fragen, die den moralischen Modus der Diskussion nicht erfordern, nicht vertragen oder beides. Dazu ein Beispiel aus dem Alltag: Nehmen wir an, ein Vater will den monatlichen Großeinkauf machen und bittet die volljährige Tochter, ihm dabei zu helfen. Sie will aber lieber zur Geburtstagsfeier eines Freundes gehen. Darauf sagt der Vater: „Du bist immer so egoistisch" und: „Deine Familie ist dir egal." Er nimmt also eine kleine Interessendifferenz, zu deren gütlicher Beilegung allgemein bekannte Konventionen zur Verfügung stehen, zum Anlass einer Charakteranklage gegen seine Tochter. Durch die Äußerungen ihres Vaters, die eine harmlose Situation moralisieren, wird sie dazu aufgefordert, jetzt erst einmal nachzuweisen, dass sie kein egoistischer, familienvergessener Mensch ist.
Wer eine Frage moralisiert, der erklärt den weiteren Verlauf einer Diskussion zum Endspiel darum, welche Prinzipien die richtigen sind und welche die falschen – und das läuft auf die Frage hinaus, wer der Beteiligten ein guter Mensch ist und wer nicht. Der Fokus wandert schlagartig von der zu klärenden Sache und dem Verständigungsversuch auf die beteiligten Personen und ihre realen oder angeblichen Eigenschaften. Der Modus der Diskussion verändert sich durch Moralisierung stets auch, und zwar von Anfrage („Wie finden Sie das und das?") zu einer Anklage.
Eine um sich greifende Moralisierung in der öffentlichen Diskussion haben wir bei allen angstbesetzten Großthemen der vergangenen Jahrzehnte erlebt, ob Migration, Corona oder Krieg. Diese Moralin-Seuche ist die wesentliche Ursache für den hohen Grad zwischenmenschlicher Entfremdung, den wir in Deutschland gegenwärtig sehen.
Moralisierung als Keim des Fundamentalismus
Damit ist nicht gesagt, dass es keine berechtigten moralischen Verurteilungen geben kann – natürlich gibt es auch tatsächlich moralische Fragen, wie zum Beispiel die nach der Legitimität der Todesstrafe. Auch kann man hinter jedem politischen Vorschlag das moralische Prinzip ausfindig machen, dem er verpflichtet ist oder aus dem er gedanklich herstammt; entscheidend ist aber zu verstehen, dass mit der Moralisierung die genannte brisante Dynamik von Angriff und Verteidigungswunsch ins Spiel kommt, die schnell destruktiv wird und eine Einigung verhindern kann.
Nicht mehr freiheitliche Politik – das heißt der Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher Freiheit – steht im Zentrum einer moralindurchseuchten Kultur, sondern die dringend empfundene Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. Die zunehmende Praxis der „Faktencheckerei" ist ebenso ein Beispiel dafür wie die immer neuen, staatlich eingerichteten „Meldestellen", die doch tatsächlich in einem weltanschaulich neutralen Staat Gesinnungsverstöße von Bürgern sammeln sollen!
Doch was ist die Wahrheit, ob nun sachpolitisch in einer bestimmten Frage oder allgemein im moralischen Sinne? Und die von wem genau benannten „Experten" sind nochmal die „richtigen", denen man zuhören darf? Und was ist „die Wissenschaft"? Gibt es die einheitliche, monolithische Wissenschaft, die man leugnen könnte, so wie man den Gott der Muslime oder Christen leugnen kann? Ist Wissenschaft nicht ein Erkenntnisprozess mit offenem Ausgang?
Streit als Normalfall der offenen Gesellschaft
Michael Andrick. © Karolina KovacOhne eine tolerante, ebenso geduldige wie streitfreudige Gesprächskultur kann Demokratie nicht funktionieren. Sowohl geistig individuell als auch politisch führt eine unbehandelte Moralitis langsam, aber sicher zur Beendigung der Freiheit, zur Einschließung im Moralgefängnis.
Wird nicht mehr freimütig und offen gesprochen, so werden die Mächtigen auch nicht mehr effektiv kontrolliert. Und wollen ökonomisch mächtige oder intellektuell überlegene Bürger den respektvollen Streit nicht pflegen, sondern einfach alles zu ihren Gunsten dominieren, so werden sie Wege finden, die Demokratie zur bloßen Fassade ihrer Oligarchie zu machen. In unserer Zeit bisher ungekannter Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen von immer weniger Menschen und Institutionen ist dies längst gängige Praxis, wie etwa die Vereinnahmung der WHO durch Privatinvestoren verdeutlicht.
Der Jurist Ferdinand Kirchhof stellte in der „Neuen Juristischen Wochenzeitung" fest: „Moralisierende Diskussionstabus gefährden die von Artikel 5 des Grundgesetzes intendierte Meinungsvielfalt in gleicher Weise wie staatliche Zensur und Aufsicht […] Politische und gesellschaftliche Entscheidungen werden nicht mehr in der Gesamtheit der Gesellschaft nach dem freien Willen jedes einzelnen ihrer Mitglieder erörtert, sondern von den Interessen bestimmter Gruppen in der Gesellschaft gesteuert."
Das heißt aber nicht, dass wir – wie die gängige Floskel es will – eine „gespaltene Gesellschaft" sind: Wäre Meinungsverschiedenheit schon Spaltung, dann wäre jede meinungsplurale Gesellschaft zu jeder Zeit gespalten. Eine gelingende Demokratie besteht jedoch gerade in der Verwaltung unzähliger Meinungskonflikte in einem knirschenden, quietschenden, aber eben friedlichen Gegeneinander.
Was wir „Spaltung" nennen, kann deshalb allenfalls als die Praxis oder das Ergebnis eines destruktiven Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten verstanden werden. In diesem Sinne müssen wir die Spaltung der Gesellschaft auf Tätigkeiten und gerade nicht als einen schon eingetretenen Zustand verstehen und analysieren. Spalterisches Handeln ist unser Problem. Dieses näher zu verstehen und die Institutionen zu entlarven, die eine von spalterischem Handeln dominierte politische Kultur erschaffen haben, ist die dringliche philosophische Aufgabe der Zeit.
Michael Andrick ist Philosoph und Autor. Sein aktueller Spiegel-Bestseller „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden" behandelt die Effekte einer leichtfertigen Moralisierung politischer Debatten.
Bei jeder größeren Streitfrage hat sich in den Medien in den letzten Jahren eine besondere Umgangsweise etabliert: Bestimmte Ansichten werden sehr schnell als gut und richtig, alle anderen aber als irgendwie verdächtig oder falsch behandelt. Gleichzeitig werden öffentlich vermehrt Kontaktschuld-Vorstellungen („Wer mit Rechten auf die Straße geht…") gepflegt, so als bedeute schon der Umgang mit jemandem, sich seine Ansichten zu eigen zu machen oder sich gar mit seinen Zielen zu solidarisieren.

Warum? Warum sollte die Vielfalt von Standpunkten ein Problem sein? Ist Demokratie nicht eigentlich friedliche Streitverwaltung? Und brauchen wir nicht Streit, um etwas zu lernen?
Was ist Moralisierung?
Der Grund ist eine Infektion der Kommunikationswege mit einem Erreger, den ich Moralin nenne: Gemeint ist damit eine aktive, aber nicht immer absichtliche Moralisierung von Fragen, die den moralischen Modus der Diskussion nicht erfordern, nicht vertragen oder beides. Dazu ein Beispiel aus dem Alltag: Nehmen wir an, ein Vater will den monatlichen Großeinkauf machen und bittet die volljährige Tochter, ihm dabei zu helfen. Sie will aber lieber zur Geburtstagsfeier eines Freundes gehen. Darauf sagt der Vater: „Du bist immer so egoistisch" und: „Deine Familie ist dir egal." Er nimmt also eine kleine Interessendifferenz, zu deren gütlicher Beilegung allgemein bekannte Konventionen zur Verfügung stehen, zum Anlass einer Charakteranklage gegen seine Tochter. Durch die Äußerungen ihres Vaters, die eine harmlose Situation moralisieren, wird sie dazu aufgefordert, jetzt erst einmal nachzuweisen, dass sie kein egoistischer, familienvergessener Mensch ist.
Wer eine Frage moralisiert, der erklärt den weiteren Verlauf einer Diskussion zum Endspiel darum, welche Prinzipien die richtigen sind und welche die falschen – und das läuft auf die Frage hinaus, wer der Beteiligten ein guter Mensch ist und wer nicht. Der Fokus wandert schlagartig von der zu klärenden Sache und dem Verständigungsversuch auf die beteiligten Personen und ihre realen oder angeblichen Eigenschaften. Der Modus der Diskussion verändert sich durch Moralisierung stets auch, und zwar von Anfrage („Wie finden Sie das und das?") zu einer Anklage.
Eine um sich greifende Moralisierung in der öffentlichen Diskussion haben wir bei allen angstbesetzten Großthemen der vergangenen Jahrzehnte erlebt, ob Migration, Corona oder Krieg. Diese Moralin-Seuche ist die wesentliche Ursache für den hohen Grad zwischenmenschlicher Entfremdung, den wir in Deutschland gegenwärtig sehen.
Moralisierung als Keim des Fundamentalismus
Damit ist nicht gesagt, dass es keine berechtigten moralischen Verurteilungen geben kann – natürlich gibt es auch tatsächlich moralische Fragen, wie zum Beispiel die nach der Legitimität der Todesstrafe. Auch kann man hinter jedem politischen Vorschlag das moralische Prinzip ausfindig machen, dem er verpflichtet ist oder aus dem er gedanklich herstammt; entscheidend ist aber zu verstehen, dass mit der Moralisierung die genannte brisante Dynamik von Angriff und Verteidigungswunsch ins Spiel kommt, die schnell destruktiv wird und eine Einigung verhindern kann.
Nicht mehr freiheitliche Politik – das heißt der Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher Freiheit – steht im Zentrum einer moralindurchseuchten Kultur, sondern die dringend empfundene Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. Die zunehmende Praxis der „Faktencheckerei" ist ebenso ein Beispiel dafür wie die immer neuen, staatlich eingerichteten „Meldestellen", die doch tatsächlich in einem weltanschaulich neutralen Staat Gesinnungsverstöße von Bürgern sammeln sollen!
Doch was ist die Wahrheit, ob nun sachpolitisch in einer bestimmten Frage oder allgemein im moralischen Sinne? Und die von wem genau benannten „Experten" sind nochmal die „richtigen", denen man zuhören darf? Und was ist „die Wissenschaft"? Gibt es die einheitliche, monolithische Wissenschaft, die man leugnen könnte, so wie man den Gott der Muslime oder Christen leugnen kann? Ist Wissenschaft nicht ein Erkenntnisprozess mit offenem Ausgang?
Streit als Normalfall der offenen Gesellschaft

Wird nicht mehr freimütig und offen gesprochen, so werden die Mächtigen auch nicht mehr effektiv kontrolliert. Und wollen ökonomisch mächtige oder intellektuell überlegene Bürger den respektvollen Streit nicht pflegen, sondern einfach alles zu ihren Gunsten dominieren, so werden sie Wege finden, die Demokratie zur bloßen Fassade ihrer Oligarchie zu machen. In unserer Zeit bisher ungekannter Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen von immer weniger Menschen und Institutionen ist dies längst gängige Praxis, wie etwa die Vereinnahmung der WHO durch Privatinvestoren verdeutlicht.
Der Jurist Ferdinand Kirchhof stellte in der „Neuen Juristischen Wochenzeitung" fest: „Moralisierende Diskussionstabus gefährden die von Artikel 5 des Grundgesetzes intendierte Meinungsvielfalt in gleicher Weise wie staatliche Zensur und Aufsicht […] Politische und gesellschaftliche Entscheidungen werden nicht mehr in der Gesamtheit der Gesellschaft nach dem freien Willen jedes einzelnen ihrer Mitglieder erörtert, sondern von den Interessen bestimmter Gruppen in der Gesellschaft gesteuert."
Worin liegt die Spaltung?

Was wir „Spaltung" nennen, kann deshalb allenfalls als die Praxis oder das Ergebnis eines destruktiven Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten verstanden werden. In diesem Sinne müssen wir die Spaltung der Gesellschaft auf Tätigkeiten und gerade nicht als einen schon eingetretenen Zustand verstehen und analysieren. Spalterisches Handeln ist unser Problem. Dieses näher zu verstehen und die Institutionen zu entlarven, die eine von spalterischem Handeln dominierte politische Kultur erschaffen haben, ist die dringliche philosophische Aufgabe der Zeit.
Michael Andrick ist Philosoph und Autor. Sein aktueller Spiegel-Bestseller „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden" behandelt die Effekte einer leichtfertigen Moralisierung politischer Debatten.
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Gesellschaft | Politik, 14.06.2024

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