Hunger in der Lieferkette – darf das sein?
Transparenz in der Lieferkette
Weltweit leiden bis zu 828 Millionen Menschen an Hunger und über zwei Milliarden an Mangelernährung. Das Paradox: Es hungern Kleinbäuer:innen oder landlose Arbeiter:innen, die in landwirtschaftliche Lieferketten eingebunden sind. Ein Problem, das sich derzeit im Kontext multipler Krisen dramatisch verschärft. Dieser Hunger steckt in zahlreichen Produkten des Globalen Südens und ist bislang noch immer mehr oder minder unsichtbar.
Bilder von verzweifelten Eisbären, riesigen Urwaldrodungen oder dramatischen Überschwemmungen haben unser Umweltbewusstsein geschärft und führen dazu, dass viele Produkte aus dem Globalen Süden zunehmend unter strengerer Einhaltung von Umweltaspekten produziert werden. Auch für potenziell schädliche Auswirkungen auf Menschenrechte müssen sich Unternehmen mehr und mehr verantworten: Durch das im Januar 2023 in Kraft tretende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sollen Menschen- und Umweltrechte in globalen Lieferketten gestärkt werden. Transparenz über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, vom angebauten Rohstoff über Verarbeitung und Handel, ist nur selten gegeben. Die Herausforderungen stecken in teils sehr komplexen Ketten, denn bei hochverarbeiteten Produkten ist zumindest ein Teil der Rohstoffe häufig landwirtschaftlicher Herkunft, beispielsweise Kautschuk für die Autoreifen oder Palmöl für Kosmetika. Dort eine transparente Lieferkette aufzubauen, um den unternehmerischen Sorgfaltspflichten gerecht zu werden, stellt Betriebe vor eine Herausforderung. Doch wie bekomme ich den Hunger aus den Autoreifen raus?
Nachhaltigkeitszertifizierungen sind ein weitverbreitetes Mittel, um die Einhaltung von menschen- und umweltrechtlichen Standards in den verschiedenen Schritten der Lieferkette nachzuweisen. Sie können eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung solcher Anforderungen in bewährte landwirtschaftliche Praktiken und Leitlinien spielen. Als praxisorientierte Instrumente erhöhen sie die Transparenz und erleichtern den Handel. Auch für Verbraucher:innen können Nachhaltigkeitslabel einen Mehrwert bringen, da sie wertvolle Informationen über die Produktionsbedingungen vermitteln.
Und nun sind da noch die Menschenrechte
Neben ökologischen Kriterien von Nachhaltigkeitszertifizierungen werden vermehrt auch soziale Aspekte in Audits überprüft, beispielsweise die Einhaltung von ILO Kernarbeitsnormen für grundlegende Arbeitnehmer:innenrechte, die Berücksichtigung von existenzsichernden Löhnen oder der Ausschluss von Kinderarbeit. Das Menschenrecht auf Nahrung, eines der grundlegendsten Menschenrechte, wird allerdings bei der Nachhaltigkeitszertifizierung kaum berücksichtigt. Der Food Security Standard (FSS) schließt diese Lücke und setzt sich für die Bekämpfung von globalem Hunger dort ein, wo er am häufigsten entsteht: Am Anfang der Lieferkette. Er bietet eine Reihe praktischer und messbarer Kriterien und Instrumente an, die in jeden Nachhaltigkeitsstandard und jedes Zertifizierungssystem integriert werden können, damit auch der Privatsektor seinen Beitrag gegen den Hunger in der Welt leisten kann.
Ein Menschenrecht kommt nie allein
Die Verwirklichung des Menschenrechts auf angemessene Ernährung ist untrennbar mit dem Schutz anderer Menschenrechte verbunden. Damit deckt der FSS die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit ab. Der FSS orientiert sich explizit an den FAO-Leitlinien für das Recht auf Nahrung und ermöglicht Unternehmen, einen Betrag zur Erreichung von SDG 2 „Kein Hunger" zu leisten. Der FSS spiegelt die komplexen Faktoren des Hungers wider, denn Hunger ist meist das Ergebnis struktureller Probleme. Um zu ermöglichen, dass Menschen für sich selbst sorgen können, sind Zugang zu Land und intakten natürlichen Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung genauso wichtig wie angemessene Löhne und soziale Absicherung. Ernährungssichere Familien wiederum können ihre Kinder in die Schule schicken und sind nicht auf ihren Beitrag zum Familieneinkommen angewiesen.
Aus dem Blickwinkel einer Theory of Change bietet der Einfluss eines landwirtschaftlichen Betriebs auf umliegende Gemeinden und Regionen vielfältige Entwicklungschancen: Die FSS-Zertifizierung gilt zwar immer für einen Betrieb, betrachtet wird dieser allerdings im lokalen Kontext. Sie zielt nicht nur darauf ab, das Recht auf Nahrung der Belegschaft zu sichern, sondern berücksichtigt auch umliegende Gemeinden und mögliche Folgen für die Umwelt jenseits des Betriebes. Maßnahmen zur Identifizierung und Abmilderung von Risiken werden in Konsultation mit lokalen Gemeinden, Arbeitnehmer:innen und Kleinbäuer:innen erarbeitet. Auf diese Weise stellen Nachhaltigkeitsstandards, die den FSS integrieren, sicher, dass die lokale und regionale Planung berücksichtigt und Rechteinhaber:innen einbezogen werden. Die gewonnenen Erkenntnisse sind für alle Akteur:innen und auch die nachgelagerte Lieferkette von entscheidender Bedeutung, um angemessene Maßnahmen zu ergreifen, die eine nachhaltige soziale Entwicklung fördern. Richtig angewendet können Nachhaltigkeitszertifizierungen, die oft weitgehend unbegründet als zusätzliche Hürde für Produktionsbetriebe empfunden werden, einen Anreiz dafür schaffen, unternehmerischen Erfolg im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Lely Antelo Melgar, Nachhaltigkeitsbeauftragte beim Zuckerproduzenten Aguaí aus Bolivien, formuliert das so: „Ein Unternehmen ist dann erfolgreich, wenn sein Umfeld gemeinsam mit ihm wachsen kann."
Chance für Menschen- und Umweltrechte
In der sich wandelnden rechtlichen Landschaft der Unternehmensverantwortung müssen auch die Folgen staatlicher Regulierung betrachtet werden. Bislang sind die genauen Auswirkungen für global agierende Unternehmen noch nicht in Gänze klar, noch weniger die Auswirkungen auf Kleinbäuer:innen in Exportländern. Klar ist jedoch, dass Lieferketten in den Fokus geraten und mit ihnen auch die Chance, Produkte herzustellen, zu verarbeiten und zu verkaufen, die nachweislich unter Einhaltung von Menschen- und Umweltrechten entstanden sind und sogar einen positiven Beitrag zum Wandel durch Handel geleistet haben. Dafür braucht es Instrumente, die es Unternehmen ermöglichen einen schnellen Überblick über mögliche Risiken in ihren Lieferketten zu bekommen und direkt zu adressieren. Als Zusatzmodul lässt der FSS sich ganz einfach in bestehende Zertifizierungen integrieren und bietet Orientierung, welchen angemessenen Beitrag ein jeder landwirtschaftliche Betrieb zum Recht auf Nahrung leisten kann. So kann am Ende sogar der verantwortungsvolle Kauf eines Reifens ein kleiner Schritt zum Beenden des Hungers werden.
www.foodsecuritystandard.org
Bilder von verzweifelten Eisbären, riesigen Urwaldrodungen oder dramatischen Überschwemmungen haben unser Umweltbewusstsein geschärft und führen dazu, dass viele Produkte aus dem Globalen Süden zunehmend unter strengerer Einhaltung von Umweltaspekten produziert werden. Auch für potenziell schädliche Auswirkungen auf Menschenrechte müssen sich Unternehmen mehr und mehr verantworten: Durch das im Januar 2023 in Kraft tretende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sollen Menschen- und Umweltrechte in globalen Lieferketten gestärkt werden. Transparenz über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, vom angebauten Rohstoff über Verarbeitung und Handel, ist nur selten gegeben. Die Herausforderungen stecken in teils sehr komplexen Ketten, denn bei hochverarbeiteten Produkten ist zumindest ein Teil der Rohstoffe häufig landwirtschaftlicher Herkunft, beispielsweise Kautschuk für die Autoreifen oder Palmöl für Kosmetika. Dort eine transparente Lieferkette aufzubauen, um den unternehmerischen Sorgfaltspflichten gerecht zu werden, stellt Betriebe vor eine Herausforderung. Doch wie bekomme ich den Hunger aus den Autoreifen raus?
Nachhaltigkeitszertifizierungen sind ein weitverbreitetes Mittel, um die Einhaltung von menschen- und umweltrechtlichen Standards in den verschiedenen Schritten der Lieferkette nachzuweisen. Sie können eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung solcher Anforderungen in bewährte landwirtschaftliche Praktiken und Leitlinien spielen. Als praxisorientierte Instrumente erhöhen sie die Transparenz und erleichtern den Handel. Auch für Verbraucher:innen können Nachhaltigkeitslabel einen Mehrwert bringen, da sie wertvolle Informationen über die Produktionsbedingungen vermitteln.
Und nun sind da noch die Menschenrechte
Neben ökologischen Kriterien von Nachhaltigkeitszertifizierungen werden vermehrt auch soziale Aspekte in Audits überprüft, beispielsweise die Einhaltung von ILO Kernarbeitsnormen für grundlegende Arbeitnehmer:innenrechte, die Berücksichtigung von existenzsichernden Löhnen oder der Ausschluss von Kinderarbeit. Das Menschenrecht auf Nahrung, eines der grundlegendsten Menschenrechte, wird allerdings bei der Nachhaltigkeitszertifizierung kaum berücksichtigt. Der Food Security Standard (FSS) schließt diese Lücke und setzt sich für die Bekämpfung von globalem Hunger dort ein, wo er am häufigsten entsteht: Am Anfang der Lieferkette. Er bietet eine Reihe praktischer und messbarer Kriterien und Instrumente an, die in jeden Nachhaltigkeitsstandard und jedes Zertifizierungssystem integriert werden können, damit auch der Privatsektor seinen Beitrag gegen den Hunger in der Welt leisten kann.
Ein Menschenrecht kommt nie allein
Die Verwirklichung des Menschenrechts auf angemessene Ernährung ist untrennbar mit dem Schutz anderer Menschenrechte verbunden. Damit deckt der FSS die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit ab. Der FSS orientiert sich explizit an den FAO-Leitlinien für das Recht auf Nahrung und ermöglicht Unternehmen, einen Betrag zur Erreichung von SDG 2 „Kein Hunger" zu leisten. Der FSS spiegelt die komplexen Faktoren des Hungers wider, denn Hunger ist meist das Ergebnis struktureller Probleme. Um zu ermöglichen, dass Menschen für sich selbst sorgen können, sind Zugang zu Land und intakten natürlichen Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung genauso wichtig wie angemessene Löhne und soziale Absicherung. Ernährungssichere Familien wiederum können ihre Kinder in die Schule schicken und sind nicht auf ihren Beitrag zum Familieneinkommen angewiesen.
Aus dem Blickwinkel einer Theory of Change bietet der Einfluss eines landwirtschaftlichen Betriebs auf umliegende Gemeinden und Regionen vielfältige Entwicklungschancen: Die FSS-Zertifizierung gilt zwar immer für einen Betrieb, betrachtet wird dieser allerdings im lokalen Kontext. Sie zielt nicht nur darauf ab, das Recht auf Nahrung der Belegschaft zu sichern, sondern berücksichtigt auch umliegende Gemeinden und mögliche Folgen für die Umwelt jenseits des Betriebes. Maßnahmen zur Identifizierung und Abmilderung von Risiken werden in Konsultation mit lokalen Gemeinden, Arbeitnehmer:innen und Kleinbäuer:innen erarbeitet. Auf diese Weise stellen Nachhaltigkeitsstandards, die den FSS integrieren, sicher, dass die lokale und regionale Planung berücksichtigt und Rechteinhaber:innen einbezogen werden. Die gewonnenen Erkenntnisse sind für alle Akteur:innen und auch die nachgelagerte Lieferkette von entscheidender Bedeutung, um angemessene Maßnahmen zu ergreifen, die eine nachhaltige soziale Entwicklung fördern. Richtig angewendet können Nachhaltigkeitszertifizierungen, die oft weitgehend unbegründet als zusätzliche Hürde für Produktionsbetriebe empfunden werden, einen Anreiz dafür schaffen, unternehmerischen Erfolg im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Lely Antelo Melgar, Nachhaltigkeitsbeauftragte beim Zuckerproduzenten Aguaí aus Bolivien, formuliert das so: „Ein Unternehmen ist dann erfolgreich, wenn sein Umfeld gemeinsam mit ihm wachsen kann."
Chance für Menschen- und Umweltrechte
In der sich wandelnden rechtlichen Landschaft der Unternehmensverantwortung müssen auch die Folgen staatlicher Regulierung betrachtet werden. Bislang sind die genauen Auswirkungen für global agierende Unternehmen noch nicht in Gänze klar, noch weniger die Auswirkungen auf Kleinbäuer:innen in Exportländern. Klar ist jedoch, dass Lieferketten in den Fokus geraten und mit ihnen auch die Chance, Produkte herzustellen, zu verarbeiten und zu verkaufen, die nachweislich unter Einhaltung von Menschen- und Umweltrechten entstanden sind und sogar einen positiven Beitrag zum Wandel durch Handel geleistet haben. Dafür braucht es Instrumente, die es Unternehmen ermöglichen einen schnellen Überblick über mögliche Risiken in ihren Lieferketten zu bekommen und direkt zu adressieren. Als Zusatzmodul lässt der FSS sich ganz einfach in bestehende Zertifizierungen integrieren und bietet Orientierung, welchen angemessenen Beitrag ein jeder landwirtschaftliche Betrieb zum Recht auf Nahrung leisten kann. So kann am Ende sogar der verantwortungsvolle Kauf eines Reifens ein kleiner Schritt zum Beenden des Hungers werden.
www.foodsecuritystandard.org
Theresa Heering, Lisa Heinemann und Dr. Rafaël Schneider arbeiten für die Welthungerhilfe und das Projekt Food Security Standard (FSS), das von der Welthungerhilfe, dem WWF sowie dem Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn initiiert und von 2017 bis 2021 entwickelt wurde. Ziel der aktuellen FSS-Kooperation von WHH und Meo Carbon Solutions ist eine breite Anwendung des FSS – zur Einhaltung des Rechts auf Nahrung und weiterer Menschenrechte in globalen Wertschöpfungsketten. Der FSS wird vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert.
Quelle: BAUM e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften
Wirtschaft | Lieferkette & Produktion, 26.11.2022
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2022 mit dem Schwerpunkt: Globale Ziele und Klimaschutz - Zeit, die Stimme zu erheben und endlich zu handeln? erschienen.
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