Taiwan – die Lunte zischt

Der aktuelle Kommentar von Gero Jenner

Einen militärischen Überfall auf die Insel würden die USA nicht dulden, so die explizite Drohung Joe Bidens. Jetzt aber hat China den ersten Schritt zu einem solchen Überfall vollzogen, indem es die Insel mit einem militärischen Manöver einkesselte.
 
Der Konflikt um Taiwan könnte sich zu einem Kampf der Weltmächte ausweiten, so Gero Jenner. © chickenonline, pixabay.comDas Manöver Chinas ist nur der Beginn von Übungen, die in Zukunft immer öfter rings um Taiwan stattfinden sollen. Wird Biden die Insel mit Flugzeugträgern schützen und einen Kriegsausbruch riskieren, oder hat er nur falsche Versprechungen gemacht, wie die chinesische Propanda den Taiwanesen täglich verkündet?
 
Taiwan als Opfer geostrategischer Interessen
1972 hatten Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger Mao Zedong vertraglich zugesichert, dass es für die USA nur ein China und nur eine einzige rechtmäßige Regierung gebe: die kommunistische des Festlands (so jedenfalls wurde die Vereinbarung von der Volksrepublik verstanden). Damit übernahmen die Vereinigten Staaten die Definition Taiwans als „abtrünnige Provinz". Diese Kehrtwende der amerikanischen Politik entsprang nicht etwa einer plötzlich aufkommenden Liebe zum damals noch erzkommunistischen China sondern geostrategischem Kalkül. China sollte von dem damals gefährlichsten Gegner der freien Welt, der Sowjetunion, abgespalten werden, dann wäre es möglich, den Vietnamkrieg schneller zu beenden. Dieses Kalkül, dem das demokratische Taiwan leichtfertig geopfert wurde, schien zunächst aufzugehen – allerdings nur für kurze Zeit, wie sich bald zeigte. Es dauerte nicht lange, da schlossen sich die beiden Beta-Mächte China und Russland erneut gegen die USA zusammen, den damals noch allmächtigen Alpha-Regenten.
 
Immerhin hatten die USA darauf bestanden, dass die Vereinigung Taiwans mit der Volksrepublik nur auf friedliche Weise erfolgen dürfe. Angesichts der zunehmenden militärischen Bedrohung Taiwans durch Festlandchina könnten die USA, Taiwan und die UNO auch jetzt auf einer demokratischen Abstimmung über Taiwans Zukunft bestehen; es steht aber von vornherein fest, dass Xi Jinping davon auf keinen Fall etwas wissen will. China verletzt das Recht immer dann, wenn es glaubt, einen solchen Schritt ungestraft vollziehen zu können.
 
Die Logik der militärischen Stärke
Anders gesagt, verhält sich die Volksrepublik genauso wie jeder expandierende Staat, der sich auf eine starke Wirtschaft und ein starkes Militär stützen kann. Solche Expansion wird zwar in der Regel ideologisch gerechtfertigt (meist durch die Feindschaft zu irgendwelchen ausbeuterischen Mächten). In Wahrheit hat sie aber mit Ideologie gar nichts, dagegen mit Stärke alles zu tun.  Militärische Stärke begünstigt durch technologischen Vorsprung sorgte dafür, dass Europa die neue Welt eroberte, und nicht etwa umgekehrt die Indios in Madrid, Paris und London heimisch wurden. Aber der eigentliche Weltregent des 20. Jahrhunderts waren die USA. Überall auf dem Globus waren – und sind – ihre Militärbasen zu finden. Die Vereinigten Staaten haben fast alle Techniken entwickelt oder zur praktischen Anwendung gebracht, welche die heutige Weltwirtschaft prägen: Digitalisierung, Weltraumtechnologie, Nutzung der Atomenergie, Informatik, Biogenetik. Das verlieh ihnen ihre Stärke als unangefochtete Supermacht während beinahe eines ganzen Jahrhunderts.
 
Das Reich der Mitte war bis ins 17. Jahrhundert der reichste und mächtigste Staat der Erde. Seit etwa einem Jahrzehnt ist er im Begriff, es neuerlich zu werden. Während seit zwanzig Jahren im Hauptquartier des Westens, den USA, die Infrastruktur aus Autobahnen und Brücken, Eisen- und U-Bahnen sichtbar verkommt; während sich in den amerikanischen Städten die Slums ausbreiten und die ethnischen Gruppen einander immer verbissener bekämpfen, verbreitet das moderne China den Glamour und Glanz eines technologischen Wunderkinds. Alles scheint dort neu und auf dem letzten Stand zu sein: die Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Peking Tibet und Xinjiang, die Messepaläste im ganzen Land, die digitale Infrastruktur 5G, die neuen Flughäfen und Fabriken, die das Land inzwischen wie in einem Rausch der Modernisierung in Serie produziert.
 
Weltmacht USA in Gefahr
China – ein Entwicklungsland noch bis vor dreißig Jahren – ist inzwischen so mächtig, dass die USA jetzt fürchten müssen, in einem konventionell geführten Krieg um Taiwan der Großmacht China nicht länger gewachsen zu sein. Festlandchina hat inzwischen so stark aufgerüstet, dass ein Schlagabtausch mit den USA diese wenigstens ebenso stark ausbluten würde wie das feindliche China selbst. Aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zum umkämpften Taiwan befindet sich dieses noch dazu in einer weit besseren Situation.
 
Andererseits ist es kaum vorstellbar, dass die USA – immer noch die größte Atommacht der Welt – im Kriegsfall eine Niederlage hinnehmen würden, ohne ihren letzten und eigentlichen Trumpf auszuspielen: ihre erdrückende nukleare Übermacht. Für die USA laufen solche Überlegungen darauf hinaus, dass sie einen Schlagabtausch mit China heute gerade noch riskieren könnten, solange sie ausschließlich dieses Land zum Gegner haben. China ist für sie noch keine ernstzunehmende Nuklearmacht. Im Falle eines Kriegsausbruchs, bei dem die Rivalen bis zuletzt hoffen, dass er niederschwellig verläuft, also allenfalls unter Einsatz von „taktischen" Nuklearwaffen, bräuchten die USA keine Angst zu haben, dass sie von der Landkarte verschwinden, China aber müsste das sehr wohl befürchten.
 
Die Parallele zwischen Taiwan und der Ukraine
Das Problem für die USA ist Russland, das sich, inzwischen in unverbrüchlicher, wenn auch inoffizieller Allianz fest zum chinesischen Nachbarn hält. Von diesem Bündnispartner unterscheidet sich Russland fundamental. Während die Volksrepublik seit dreißig Jahren nur immer größer und stärker wurde, ist die russische Föderation ein Staat im Niedergang, der ohne die Ausbeutung seiner gewaltigen natürlichen Ressourcen (vor allem Kohle, Erdöl und Gas) längst pleite wäre. Aber ihre gewaltigen fossilen Ressourcen haben der russischen Föderation einen nicht weniger großen Geldstrom vor allem aus Europa beschert. Der Niedergang kam erst, als Putin sich darauf besann, immer größere Mittel in die Rüstung zu stecken, und zwar mit dem offen proklamierten Ziel, "die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, den Zerfall der Sowjetunion" durch eine neuerliche Expansionspolitik wieder rückgängig zu machen.
 
Die Parallele zwischen Taiwan und der Ukraine ist offenkundig. Die kleine Insel ist für die Volksrepublik ein prachtvolles Beutestück, da sie über einen Schatz von einzigartigem Wert verfügt. Taiwan versorgt die Welt mit den kleinsten und besten Chips und hat mit 55 Prozent den größten Marktanteil von allen konkurrierenden Konzernen. Die USA unternehmen derzeit alles, um die Volksrepublik, welche in diesem Sektor zurzeit noch abhängig von westlichen Lieferungen ist, daran zu hindern, auch auf diesem Gebiet die Führung zu übernehmen. Zu diesem Zweck versuchen sie, die Chipproduktion in Taiwan und Südkorea ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um den Vorsprung des Westens gegenüber der Volksrepublik wenigstens auf diesem Gebiet zu bewahren. Durch einen gelungenen Überfall auf Taiwan würde Festlandchina – wie die USA zu Recht befürchten – in den Besitz der fortgeschrittensten Produktionsstätte für Chips gelangen und könnte dann auch Russland damit versorgen.
 
Ideologie als ökonomisch-militärische Logik
Auch der Überfall Russlands auf die Ukraine folgt ökonomischer Logik. Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, hatte in seinem einflussreichen Buch „Das große Schachspiel" die These aufgestellt, dass Russland ohne die Ukraine seinen Rang als Imperium einbüßen würde. Damit hatte er zweifellos recht. Obwohl wirtschaftlich in den meisten Bereichen – außer dem militärischen – unterentwickelt, ist Russland eine ökonomische Weltmacht aufgrund seiner fossilen Quellen sowie als Exporteur von Getreide. Wenn es Putin gelingt, die Ukraine zu unterwerfen, rückt es auf diesem Gebiet zu einem Monopolisten auf.
 
Chinesen sind sehr viel pragmatischer.  Der Kommunismus spielt nur insofern eine Rolle, als er dazu dient, das stalinistische Modell einer Ein-Parteien-Herrschaft zu legitimieren. Andererseits gelingt es der Partei aber auch, eine übergroße Ballung wirtschaftlicher Macht in wenigen Händen zu verhindern und auf diese Art den Kapitalismus zu zähmen. Das Spiel mit der Ideologie ist also durchweg von Realismus bestimmt. Die politische Elite des Landes ist sich auch durchaus bewusst, dass eine überwältigende Mehrheit der Taiwanesen strikt gegen eine erzwungene Übernahme durch den starken Nachbarn ist. Sie weiß, dass diese Mehrheit in den USA eine Schutzmacht sieht, die sie davor bewahren kann. Aber Festlandchina weiß auch, dass die USA – und der Westen insgesamt – einen Krieg keinesfalls wollen, zumal sie selbst ökonomisch wie militärisch zunehmend stärker werden. Zwar können die USA und ein geeinter Westen Russland daran hindern, die Ukraine zu schlucken, indem sie den Ukrainern mehr und bessere Waffen liefern. Aber Taiwan ist ein anderer Fall.
 
Die Lunte zischt
Taiwan ist eine Bombe, an der eine zischende Lunte liegt. Die Volksrepublik hat mit ihren sechs gleichzeitig stattfindenden Manövern rings um Taiwan die Insel vorübergehend eingekesselt und von der Welt abgeschnitten. Auch wenn das sechstägige militärische Muskelspiel inzwischen wieder beendet ist – China kann es zu jeder Zeit wiederholen und hat dies auch bereits angekündigt. Der Effekt ist positiv für China und schadet den USA. China hat den Taiwanesen einen ersten tödlichen Schreck zugefügt und kann jetzt noch glaubwürdiger insinuieren, dass die Vereinigten Staaten ihnen im Ernstfall ohnehin nicht zur Hilfe kommen. Nachdem Peking dieses gefährliche Spiel einmal begonnen hat, wird es mit Sicherheit fortgesetzt, bis daraus schließlich eine Dauerbelagerung wird, mit der man die Insel ökonomisch erwürgt – um die Selbständigkeit Taiwans auszuhöhlen – und sie am Ende ganz aufzuheben.
 
Die Glaubwürdigkeit der USA in Asien – und in Europa – steht und fällt aber mit ihrer Bereitschaft, das ausdrückliche Versprechen ihres Präsidenten einzulösen, wonach die USA Taiwan gegen jeden Überfall verteidigen werden – also auch gegen eine schrittweise ökonomische Blockade. Die Vereinigten Staaten haben diese Bereitschaft im gegebenen Fall nicht erkennen lassen. Wie aber, wenn sie ihr Versprechen bei der nächsten Provokation doch noch erfüllen? Dann werden sie mit größter Wahrscheinlichkeit eine Niederlage erleiden, solange sie sich nur auf ihre konventionellen Streitkräfte verlassen und nicht auf ihre überragende Stärke als nukleare Supermacht. Also ist davon auszugehen, dass sie Atomwaffen einsetzen, weil sie sich andernfalls als geschlagene Gegner aus der Weltpolitik verabschieden müssten. Und was würde dann passieren? Der Einsatz von Atombomben – auch solcher nur „taktischer" Art – würde von Chinas inoffiziellem Bündnispartner Russland mit gleicher Münze beantwortet werden. Anders als der Krieg in der Ukraine könnte das Kriegsfeuer um Taiwan einen nicht mehr zu beherrschenden Weltbrand auslösen.
 
Wer wäre dann schuld?
Gero Jenner, © privatAuch wenn die Ideologien sich widerstreiten, folgt das Handeln mächtiger aufstrebender Staaten überall einem gleichen Muster: der Expansion. Wer also ist schuld? Aus der Geschichte, wie ich sie kenne, vermag ich nur eine einzige Lehre zu ziehen, die wiederum einige meiner Leser gar nicht befriedigen wird, denn ich sage, dass der Mensch, so wie er ist, schuldig sei. Man braucht ihm nur die besseren Waffen in die Hand zu drücken, damit er sie gegen seine schwächeren Nachbarn richtet. Das ist eine traurige Lehre, gewiss, denn sie erschüttert unsere Vorstellung vom Homo sapiens oder gar Homo Deus. Aber aus der Geschichte der großen Reiche sind mir keine widerstreitenden Beispiele bekannt. Jede starke Gemeinschaft, die sich Vorteile davon erhofft, eine schwächere zu unterjochen, hat diese Gelegenheit stets ergriffen.
 
Wird unsere Welt also allein vom Recht des Stärkeren beherrscht? Nein, das ist glücklicherweise nicht der Fall. Innerhalb einer Gemeinschaft kann sich das Recht auf gleiche Chancen für alle entfalten – bis hin zur Annäherung an ein ersehntes Ideal.
 
Langversion dieses Kommentars auf der Website von Gero Jenner.
 
Gero Jenner: Studium der Philosophie, Indologie und Sinologie, ist ein deutsch-österreichischer Autor und Publizist, dessen Veröffentlichungen sich auf Wissenschaft (Philosophie, Wirtschaft, Sprachwissenschaft) und Literatur erstrecken.
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Gesellschaft | Politik, 11.08.2022

     
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