Europa in der Krise

Für Christoph Quarch führt kein Weg daran vorbei, Europa grundlegend umzubauen oder kernzusanieren – eventuell sogar abzureißen und neu zu bauen.

Während die Welt gebannt auf die Ukraine blickt, droht - wenig beachtet - im Osten Europas ein weiterer Krisenherd. Im Rahmen seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban erstmals die Möglichkeit eines Austritts aus der Europäischen Union angedeutet. So meldete es die Deutsche Presseagentur dpa. Dem wurde zwar derweil seitens der ungarischen Regierung widersprochen, doch lassen die Worte Orbans keinen Zweifel daran, dass das Verhältnis von Budapest zu Brüssel angespannt ist. Zumal der Europäische Gerichtshof vor wenigen Tagen eine Klage Ungarns und Polens abwies und es für rechtens erklärte, dass die EU ihre Unterstützung beider Länder kürzt, sofern diese gegen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien verstoßen. Europa scheint aus dem Krisenmodus nicht herauszukommen. Warum eigentlich? Diese Frage besprechen wir mit unserem Philosophen Christoph Quarch.
 
Herr Quarch, was ist mit Europa los, dass es derzeit von einer Krise in die nächste zu taumeln scheint?
© ArtsBeeKids, pixabay.com
Mir scheint, dass in diesen Tagen erschreckend deutlich wird, was europapolitisch in den letzten 20 oder 30 Jahren versäumt wurde. Kurz gesagt: Die Europäische Union hat ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren. Sie hat keine Anstrengungen mehr unternommen, sich zu einer politischen Einheit zu entwickeln. Stattdessen hat man mit Verve die Osterweiterung vorangetrieben, den Binnenmarkt ausgebaut, eine Währungsunion geschaffen – und sich ansonsten in administrativem Kleinklein verzettelt. Auf der Strecke geblieben ist dabei nicht nur die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – wie die Ukraine-Krise deutlich macht – sondern auch die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Identität, wie die Beispiele Ungarn und Polen schmerzlich vor Augen führen.

Auf der anderen Seite wird in diesen Tagen der Zusammenhalt Europas als Solidargemeinschaft mit der Ukraine immer wieder betont. Da gibt es doch eine gemeinsame politische Richtung.
Ja, aber das riecht verdächtig nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner, der schon brüchig wird, wenn es um die Frage möglicher Sanktionen gegen Russland geht. Fakt ist doch, dass es keine gemeinsam verantwortete Russland-Politik der EU gibt. Marcron und Scholz sitzen je für sich und ziemlich einsam an Putins monströsem Konferenztisch. Und Frau von der Leyen oder Herrn Michel hat man dort noch gar nicht gesehen. Von Josep Borell ganz zu schweigen. 

…. dem Außenbeauftragten der EU.
Genau. Und Kompliment, dass sie den Namen kennen. Ich vermute, die wenigsten unserer Leserinnen und Leser hätten gewusst, wer das ist. Und das kann man niemandem vorwerfen. Denn die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU findet de facto nicht statt. Stattdessen erleben wir einen Rückfall in den Nationalismus und Hegemonismus des 20. Jahrhunderts. Nicht die EU, auch nicht Deutschland oder Frankreich, sondern die USA diktieren Europas Sicherheitspolitik. Und das hat zur Folge, dass Putin die EU nicht mehr ernst nimmt – sie auch nicht ernst nehmen muss.  Und wenn Putin das nicht tut, wer sollte es sonst tun? Orban wohl kaum.

Das klingt ziemlich ernüchternd. Ist die EU dann überhaupt noch zu retten?
Die Frage muss tatsächlich so scharf gestellt werden – auch wenn ich gestehe, keine Antwort darauf zu haben. Klar ist, dass das viel beschworene gemeinsame europäische Haus gerade verdächtig nach Bauruine aussieht. Ich denke, es führt kein Weg daran vorbei, es grundlegend umzubauen oder kernzusanieren – eventuell sogar abzureißen und neu zu bauen.

Wie könnte das aussehen?
Das wichtigste ist, das Ziel wieder klar zu formulieren. Und dieses Ziel kann nur sein: Europa zu einer starken politischen Einheit zu schmieden. Ich glaube, es braucht dafür das sogenannte Europa der zwei Geschwindigkeiten: ein Kerneuropa, das den Mut aufbringt, nationalstaatliche Hoheiten sukzessive an eine europäische Republik abzugeben und diese konsequent zu einer politischen Einheit zu entwickeln. Dafür braucht es eine gemeinsame Verfassung. Wer sich dieser anschließt, ist dabei. Wer nicht, kann später dazu kommen. Binnenmarkt, Währungsunion, Schengen usw. können davon unberührt bleiben. Aber Europa wird nur gelingen, wenn wir Europäer an dem entscheidenden Punkt mutig sind.
 
Der Philosoph Christoph Quarch schreibt regelmäßig für forum Nachhaltig Wirtschaften. © Christoph Quarch




Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
 
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.

Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel". 

Gesellschaft | Politik, 17.02.2022

     
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