Hydrogen Dialogue 2024

Utopien: Nötig? Gefährlich?

Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing „(K)ein Ort für Utopien“

Wie ist das eigentlich heute mit den Utopien? Gibt es sie noch, die Ideen und Bilder, die uns von einer solidarischen, gerechten, gewaltfreien und ökologischen Gesellschaft träumen lassen? Und wenn ja, sollte man sich lieber davor hüten?
 
Auch wenn KI den Menschen unterstützt, ersetzen wird sie die Menschen nicht. © Gerd Altmann, pixabay.comFür die einen sind gesellschaftliche Utopien ganz essentiell, denn sie lassen ein Bild einer attraktiven Zukunft lebendig werden und helfen den Weg dahin zu bestimmen. Andere meinen, so manche gutgemeinte Utopie sei bisher in der Katastrophe geendet und daher mit Vorsicht zu genießen. Wichtiger sei der Diskurs. Wieder andere sehen Utopien, die eher einer Dystopie gleichen. Und dann gibt es die, die die sich auf die Suche nach gelebten Utopien machen. Vertreter*innen dieser verschiedenen Seiten kamen im März bei der virtuellen Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing „(K)ein Ort für Utopien" zu Wort, die gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DgSv) veranstaltet wurde.

Künstliche Hirne
Die Expertin für Künstliche Intelligenz (KI) und Honorarprofessorin für Ethik und Digitalisierung an der Hochschule Bonn- Rhein-Sieg, Yvonne Hofstetter, ist sehr skeptisch, ob uns die KI in unserem Leben weiterhelfen wird. Die, –  nicht zu verwechseln mit der Robotik – sei reine Mathematik und habe ihren Ursprung in der militärischen Entwicklung, wo es auch massive Interessen zur Anwendung gäbe, wie zum Beispiel sie für autonome Kampfdrohnen einzusetzen. Besonders die USA und China seien dabei führend. Zwar gäbe es im zivilen Bereich schon ein paar sinnvolle Anwendungen, wenn beispielsweise die Deutsche Bahn ihre Weichen per Drohnen überwachen könne. Insgesamt aber sieht die Juristin und Gründerin von Startups zur KI mehr Gefahren als Chancen und verweist auf das People Scoring in China, bei dem Menschen mit Hilfe von KI in gute und schlechte Bürger*innen eingeteilt werden, oder darauf, dass die ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und auch Barack Obama Facebook-Daten von Wähler*innen auswerten ließen, um sie mit gezielten Botschaften zu versorgen. Wenn es erst mal möglich sein sollte – und das scheint nicht mehr in weiter Ferne –, dass KI selbstständig Texte schreiben kann, die nicht mehr von menschenverfassten zu unterscheiden sind, dann „wird es gefährlich", meint Hofstetter. „Wie sollen wir dann noch wahr von unwahr unterscheiden? Das sind Top-Maschinen für Verschwörungstheoretiker". Noch sei das alles unter Verschluss, aber Elon Musk, Milliardär und Chef der Elektroautofirma Tesla, habe bereits seine Finger im Spiel. KI sei sehr leistungsfähig und könne Vieles erleichtern, doch es bedürfe einer konsequenten ethischen Analyse der Risiken und Gefährdungen, damit hier eine Utopie nicht zur Dystopie werde, warnt die Expertin. Immerhin einen Trost hatte sie noch: Vorstellungen von Forscher*innen im Silicon Valley, die KI könne eines Tages den Menschen ersetzen, wenn sie lerne mit Gefühlen zu hantieren, werde es wohl nicht geben. Sagen die Mathematiker*innen.

Zu Gutgemeintes kann im Totalitären enden
Das Interesse an Utopien entspringe dem Wunsch „mit der Zumutung einer auseinanderdriftenden Welt zurecht zu kommen", meint Ronny Jahn, Soziologe, Supervisor und Organisationsberater. Er sieht das mit den Utopien eher kritisch, denn sie entsprängen mehr einer „kollektiven Angstabwehr", als echtem Gestaltungswillen. Das Individuum sei überfordert mit seiner Freiheit, jeder Tag verlange einem viele Entscheidungen ab, verlässliche Routinen seien selten geworden, ebenso wie Institutionen, die den Einzelnen Orientierung böten. „Wir taumeln zwischen Größenwahn und Ängstlichkeit". In dieser Situation könnten Utopien Sicherheiten bieten. Doch für das Vorstandsmitglied der DGSv Jahn erschweren sie eher den Diskurs, als dass sie nützlich sind, denn es gäbe zu häufig den Hang zum Totalitären, wenn „das Gutgemeinte maßlos ausgedehnt wird, bis es schließlich alles andere verschlingt", wie es die Publizistin Rebecca Niazi-Shahabi formuliert. Die Demokratie selbst, so Jahn, sei doch schon eine „resiliente Utopie" und so plädierte er dafür, nach naheliegenden Möglichkeiten der Veränderung zu suchen, sich dabei demokratisch auseinanderzusetzen und ohne „Prangerkultur" zu streiten. 

In der Diskussion wurden Stimmen laut wie „ich möchte ungern ohne Utopie leben", aber es wurde auch davor gewarnt dogmatisch zu sein. Besonders schwer sei es heute auszuhalten, dass unsere Gesellschaft so divers ist und manches schlechter, anderes aber auch besser wird. Man müsse sich aber darin üben, mit Unsicherheiten und Ungewissheiten umzugehen (Ambiguitätstoleranz). 

Gelebte Utopien
Zum Schluss kam noch jemand zu Wort, der sich auf die Suche nach „gelebten Utopien" gemacht hatte. Alexander Repenning, Polit-Ökonom und Aktivist hat zusammen mit Luisa Neubauer von Fridays for Future ein Buch geschrieben („Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unsere Zukunft"), für das sie sich in Europa auf die Suche nach Menschen gemacht haben, die versuchen, gesellschaftliche Utopien ganz praktisch umzusetzen. Zumindest in einzelnen Bereichen. Ausgangspunkt dafür waren die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals). Fündig wurden die beiden zum Beispiel bei der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim in Köln, einem selbstverwalteten Projekt zur Schaffung von Arbeitsplätzen „ohne Ein-Euro-Jobs, ohne Hartz 4", das es schon seit 1979 gibt. Oder in Frankreich bei einem „Postwachstumslabor", wo man herausfinden will, inwieweit sich Wirtschaft re-lokalisieren und vom Wachstumsdruck befreien lässt. Oder bei einer „Postkapitalistischen öko-industriellen Kolonie" in der Nähe von Barcelona, wo die Protagonisten Praktiken testen, die auf Gegenseitigkeit basieren, wie zum Beispiel eine Regionalwährung.

Nichts davon ist perfekt. Überall gibt es offene Fragen wie: Wer macht die weniger attraktive Arbeit? Wie soll Arbeit überhaupt verteilt sein? Inwieweit kann man in einer globalisierten Wirtschaft lokale Wirtschaftskreisläufe umsetzen? Welche Technologien sind akzeptabel? Den älteren Teilnehmer*innen der Tagung kam einiges davon sehr bekannt vor, doch mussten sie auch zugestehen, dass „sich junge Leute trauen utopisch zu denken". Vielleicht braucht es tatsächlich eine noch lange Lebensspanne, um neue Gesellschaftsmodelle zu entwerfen, beziehungsweise die Energie aufzubringen, auch dafür einzutreten. Hoffen wir also auf die Jugend. Besserwisserisches Zuschauen ist aber nicht angesagt. Die Aufgabe der älteren Generation ist es, ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Tugenden weiterzugeben. „Generativität" nennen das die Psychologen. Nachwuchsarbeit. Als Angebot jedoch, ohne die Attitüde von selbstzentrierter Rechthaberei. Das habe ich vor zehn Jahren ebenfalls bei einer Tagung in Tutzing gelernt. Und fand es damals schon tröstlich, dass auch die Älteren eine wichtige gesellschaftliche Rolle haben – wenn sie nicht „Forever young, forever Turnschuh" an ihren Posten kleben.

Heike Leitschuh ist Buchautorin und Moderatorin für Nachhaltige Entwicklung und lebt in Frankfurt am Main.

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