Weißer Kragen, schwarze Weste

Verbrechen der Wirtschaft sind kein Kavaliersdelikt

Geht es um Kriminalität, so denkt man meistens an Raub, Überfall oder Mord und wir glauben, dass ­Verbrechen vor allem im Keller der Gesellschaft, im Umfeld der Armut verübt werden. Kein Wunder: So wird es in der Öffentlichkeit meistens dargestellt. Die zahlreichen Straftaten in Wirtschaft und Hochfinanz bleiben im Schatten. Wissenschaft und Medien müssen hier endlich Licht ins Dunkel bringen.
 
Kriminelle Elemente der Wirtschaft bedrohen jede Form von Demokratie. © 123rfWährend polizeiliche Maßnahmen auf der Straße ausgebaut werden, wartet man auf hartes Durchgreifen im Wirtschaftsbereich vergeblich. Die Delikte der sogenannten oberen Klassen, die im großen Stil im Geschäftsleben stattfinden, werden kaum im gleichen Maße zum Thema gemacht. Dabei zeigt ein Blick auf die Statistiken die drastische Schadensdimension der Wirtschaftsverbrechen.
 
Nehmen wir als Beispiel Österreich – nicht gerade bekannt für seine Kriminalität. Hier verlor der Staat 2018 nach vorsichtigen Schätzungen ein Sechstel des Bruttoinlandsprodukts (15 Prozent) durch Finanz- und Wirtschaftskriminalität. Allein durch Steuerflucht entgehen der Republik Österreich jährlich bis zu 900 Millionen Euro an Einnahmen. Politisches Vorgehen dagegen gibt es kaum. Zum einen, da es sich um länderübergreifende Sachverhalte handelt. Zum anderen jedoch fehlt es auch eindeutig am Willen zur Aufklärung, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft.
 
Ein blinder Fleck der Wissenschaft
Unmittelbar nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges, 1990, veröffentlichte ich ein Buch, das sich mit dem Problem der Kriminalität in der Wirtschaft auseinandersetzte. In einer Rezension des „Spiegel" von 1991 hieß es dazu, ich sei auf der Suche nach Fachliteratur zu diesem Thema „auf einen blinden Fleck in der Wissenschaft gestoßen". Trotz einer Springflut von Büchern über Verbrechen in Politik und Wirtschaft fände man an systematischen Untersuchungen dazu nur wenig. Eine mögliche Erklärung: „Offensichtlich bremsen Tabus den Forschungseifer."
 
1999 stieß ich auf einen Bericht über die Kriminologenkonferenz, die ein Jahr zuvor in Washington DC stattgefunden hatte. Die Berichterstatter machten darin öffentlich, dass sich auf dieser Konferenz nicht einmal zehn der über 500 Einzelveranstaltungen mit Problemen der „Weiße-Kragen-Kriminalität" befasst hatten, die damals schon als eine der gefährlichsten Kriminalitätsformen eingeschätzt wurde. Auf dieser Konferenz lieferte die kanadische Soziologieprofessorin Laureen Snider dazu das passende Referat. Überschrift: „Die Kriminalsoziologie: Ein Nachruf." Ja: Ein Nachruf. Die Professorin konstatierte: „Konzernkriminalität nimmt seit Jahren rund um den Globus zu, die Erforschung dieser Verbrechen durch die Sozialwissenschaften jedoch verzeichnet einen rapiden Rückgang."
 
Heute, nochmals zwei Jahrzehnte später, wäre die Zunahme der Wirtschaftsverbrechen mit gründlicher Zeitungslektüre, Internetrecherche und Einblicke in Kriminalstatistiken für jeden überprüfbar. Wo aber sind die investigativen Journalisten oder kritischen Professoren, wo sind die Intellektuellen, die diesen Rückzug der Kriminalwissenschaften in teils völlig belanglose Randgebiete der Alltagskriminalität öffentlich anprangern, und zwar so laut und nachhaltig, bis sich eine Wende abzeichnet? Nur noch wenige öffentlich-rechtliche Sender, eine Handvoll Verlage und streitbare Journalisten leisten sich den „Luxus" den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen (siehe Infokasten nächste Seite).
 
Das organisierte Desinteresse
In ihrem Referat verwies Laureen Snider noch auf eine andere Tatsache: Wenn Sozialwissenschaftler sich schon entschließen, doch in diesem Bereich zu forschen, dann untersuchen sie meist nicht Verbrechen der Wirtschaft, sondern Verbrechen gegen die Wirtschaft. Als Beispiel nannte sie Untersuchungen über den „Zeitdiebstahl", den Arbeitnehmer am Unternehmen begehen, indem sie Frühstückspausen überziehen, private Telefonate führen oder während der Arbeitszeit im Netz herumsurfen.
 
Tatsächlich findet man entsprechend fragwürdige Definitionen von Wirtschaftskriminalität. Die gängigste und gefährlichste lautet: Zur Wirtschaftskriminalität zählt, was der Wirtschaft schadet. Muss man da auf das Schlimmste gefasst sein? Dass nämlich schon bald wirtschaftsnahe Ideologen den Mehrheitsparteien verordnen, Streiks, Wirtschaftskritik oder gar die Steuerfahndung als Wirtschaftskriminalität zu verstehen und wegen Wirtschaftsschädigung strafrechtlich verfolgen zu lassen?
 
Jüngstes Beispiel für eine solch bedenkliche Entwicklung ist die Anklage der Schweizer Justiz gegen den deutschen Rechtsanwalt Eckart Seith. Dieser hatte die ihm bekannt gewordenen CUMEX-Verbrechen an die deutschen Behörden weitergeleitet und so einen Sieg für seinen um Millionen betrogenen Mandanten errungen. Dafür wurde er wegen Wirtschaftsspionage angeklagt. Zwar hat ein Züricher Gericht den Anwalt inzwischen von diesem Vorwurf freigesprochen, aber er wurde „wegen Anstiftung zu einem Verstoß gegen das Bankengesetz" zu einer Geldstrafe mit Bewährung verurteilt. Wenn nicht die Wirtschaftskriminellen, sondern diejenigen der Strafverfolgung ausgesetzt sind, welche die Wirtschaftsverbrechen zur Anzeige bringen, steht die Rechtsstaatlichkeit auf dem Kopf. Ist es nicht Pflicht der Wissenschaften, die Öffentlichkeit vor den sozialen, ökologischen und politischen Folgen von Verbrechen zu warnen und Lösungen anzubieten? Auch von Verbrechen der Wirtschaftseliten?
 
Die Wissenschaft am Tropf der Wirtschaft
Doch wer beantwortet uns die Frage: Wie abhängig von der Konzernwirtschaft ist eigentlich der freiheitlich-demokratische Wissenschaftsbetrieb? Das zu wissen, wäre mindestens so wichtig, wie die heute relativ leicht zu beantwortende Frage, welcher Abgeordnete, Staatssekretär oder Minister in welches Unternehmen wechselt und zum Lobbyisten wird. Aber ich kenne keine wissenschaftlichen Studien, die das Problem der Abhängigkeiten relevanter Wissenschaften von der Geldaristokratie bearbeiten. Der Mehrheitsgesellschaft ist kaum bekannt, welche Gefahren ihr durch jene aggressiven Kapitalstrategen drohen, die sich nicht nur einzelne Wissenschaftler, sondern ganze Universitäten kaufen oder eigene wissenschaftliche Institutionen gründen.
 
In dem Buch „Käufliche Wissenschaft – Experten im Dienst von Industrie und Politik" von 1994 wird ein Betriebsarzt des Kernkraftwerks Neckarwestheim zitiert, der in einer öffentlichen Veranstaltung sagte: „Ich kriege immer den richtigen Wissenschaftler mit den ‚richtigen‘ Ergebnissen, wenn ich dafür bezahle." Eine von mir initiierte und 1999 von der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control durchgeführte Fachkonferenz unter der Überschrift „Wissenschaft am Tropf der Wirtschaft" unternahm den Versuch, diese Frage in die Hochschulen hineinzutragen. Obgleich daran namhafte Wissenschaftler, Experten und Staatsanwälte beteiligt waren, wurde die Konferenz von der Hochschulleitung trickreich zu verhindern versucht, und als sie dann doch stattfand, von allen Printmedien, Radio und Fernsehen totgeschwiegen. Auch über alle anderen von Business Crime Control seit 1995 jährlich veranstalteten Konferenzen wurde in den Medien nie berichtet, obwohl immer wieder etablierte Journalisten als teilnehmende Beobachter gesehen wurden.
 
Feinde der Demokratie
Kriminelle Elemente der Wirtschaft bedrohen jede Form von Demokratie. Die konkret vorhandene bürgerliche, wo sie schon besteht, ebenso, wie alle Versuche, gegen deren ausbeuterische Strukturen genossenschaftliche, neue Demokratieformen zu etablieren. Sie beeinflussen Wahlen und Politik mit unlauteren Mitteln und schrecken nicht einmal davor zurück, Gewaltregime zu stützen, zu ihrem Vorteil zu manipulieren – oder gar selbst Gewalt anzuwenden. Solche Elemente – oft angesehene Mitglieder der Gesellschaft – sollten endlich zu Feinden der Demokratien erklärt werden. Parteien und Gesetzgeber müssen deshalb durch öffentlichen Druck dazu gebracht werden, über härtere strafrechtliche Konsequenzen nachzudenken. Dazu gehört es auch, den Missbrauch wissenschaftlicher Forschung von kapitalunabhängigen Wissenschaftlern erforschen zu lassen. Dann erst kann sich etwas ändern.
 
Das Problem ist jedoch: Nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Parteien und Parlamentarier hängen am Tropf der Wirtschaft, denn sie bekommen nicht unerhebliche Summen sowohl legal als auch illegal von ihr zugeschanzt. Deshalb dürfen wir von dieser eigentlich zuständigen Seite momentan noch nicht allzu viel erwarten. Darüber hinaus haben wir das Problem, dass Regierungen, sobald sie ankündigen, derartige Fehlentwicklungen zu korrigieren, massiven Kampagnen der Meinungsindustrie ausgesetzt sind. In diesen zum Teil schamlos erpresserischen, „wissenschaftsgestützten" Kampagnen versucht man, jedem Wähler klarzumachen, dass die angestrebten Lösungen sozialistisch oder gar kommunistisch seien, die Investoren abschrecken und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit schaden würden.
 
Wer zahlt, schafft an
Zuerst muss man die Parteienfinanzierung besser regeln, damit es den Großspendern nicht mehr freisteht, welchen Parteien sie zur Macht verhelfen. Darüber hinaus scheinen nur noch Massendemonstrationen eine Wirkung zu versprechen. Insbesondere über die neuen Medien sind sie, wie die Fridays for Future zeigen, in der Lage, weltweit Wirkung zu entfalten. Es stellt sich also die Frage, wer zu solchen Demonstrationen aufrufen könnte, um einen nachhaltigen, öffentlichen Druck auf Parteien, Parlamentarier und Regierungen zu erzeugen. Dazu berufen wären von ihrer Funktion her Gewerkschaften, Sozialverbände, wirtschaftskritische NGO’s und Wissenschaftler. Ungeeignet für diese Aufgabe ist allerdings die von Weltbankern und Unternehmen gegründete Antikorruptionsorganisation Transparency International. Sie ist dafür mitverantwortlich, dass das Thema Wirtschaftskriminalität, das Anfang der 90er-Jahre auf großes öffentliches Interesse stieß, vom Thema Korruption verdrängt wurde. Denn es lenkt – selbst wenn es nicht beabsichtigt ist – alle kritischen Blicke auf die Bestechlichkeit von Politikern, Beamten und Wissenschaftlern. Wer sie besticht, wird allenfalls mal am Rande erwähnt und ins Rampenlicht gezogen.
 
Eine der Ikonen der zivilgesellschaftlichen „Widersacher" der „neuen Herrscher der Welt" ist der mittlerweile 85-jährige Jean Ziegler. Immer wieder verweist er auf die Anstrengungen all jener, die durch ihre alltägliche Praxis, oft unter hohen Risiken und unter Inkaufnahme von Nachteilen versuchen, alternative Denk- und Lebensweisen zu entwickeln und durchzusetzen. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Was ist so schlimm am Kapitalismus?" Darin bezeichnet er diese Weltordnung als unreformierbar kannibalistisch. Auch Thilo Bode, Gründer und Leiter der Verbraucherrechtsorganisation „Foodwatch" und Autor des 2018 erschienenen Buches „Die Diktatur der Konzerne" ist ein erwähnenswerter Widerständler. Wie Jean Ziegler sieht er Hoffnung in den weltweit wachsenden zivilgesellschaftlichen Demonstrationen, die den Konzernen Paroli bieten.
 
Konzerne zu Staaten erklären
Ich persönlich plädiere dafür, den Weltkonzernen völkerrechtlich den Status von Staaten zuzuerkennen, den sie faktisch längst haben, und dann deren Parlamentarisierung durchzusetzen, wo immer sie ihre Standorte hin verlagern. Ja, das ist noch unvorstellbar, eine Utopie, aber Konzerne selbst zu Staaten zu erklären und als das zu behandeln, was sie sind, nämlich Diktaturen, wäre demokratietheoretisch die einzig richtige Alternative zur immer wieder diskutierten und mit antikommunistischen Schreckensbildern verhinderten Verstaatlichung. Dann hätten auch die Kleinen und mittleren Unternehmen wieder eine Überlebenschance. Dass wir den Konzernen nämlich großartige zivilisatorische Fortschritte verdanken, ist alles in allem kein Grund, ihre Verbrechen unter den Tisch fallen zu lassen. Nicht nur Staaten, auch sie müssen demokratischer Kontrolle unterworfen werden. 
 
Hans See war von 1976 bis 1999 Professor für Sozialpolitik an der FH Frankfurt a.M. und ist Gründer und langjähriger Vorsitzende der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control und ihrer Zeitschrift BIG Business Crime, heute Ehrenvorsitzender des gemeinnützigen Vereins. Er hat zu diesem Thema viele Aufsätze und mehrere Bücher verfasst, zuletzt „Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen". Er betreibt u.a. das Internetportal www.see-hans.de.

Lifestyle | Geld & Investment, 01.06.2019
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2019 - Afrika – Kontinent der Entscheidung erschienen.
     
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