Übergang zur Next Economy
André Reichel, Professor für Critical Management & Sustainable Development, über die Zukunft von Management, Wirtschaft und Gesellschaft
Die Zukunft des Wirtschaftens wird durch drei Megatrends bestimmt: Nachhaltige Entwicklung für mehr als neun Milliarden Menschen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts, die Digitalisierung als primär soziales sowie technologisches Phänomen sowie einer Postwachstumsökonomie als der neuen Wachstumsrealität nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Das sind die Themen des renommierten Forschers und Experten Prof. Dr. André Reichel. Herr Marco Englert hat sich mit dem Pionier über die Zukunft von Management, Wirtschaft und Gesellschaft ausgetauscht:
Welche Kräfte und Megatrends sind in der modernen Gesellschaft aktiv?
Wenigstens drei Bewegungen fallen hier auf. Zum einen der menschengemachte Klimawandel und seine sozialen, ökonomischen und politischen Folgen. Selbst das globale Ziel einer Zwei-Grad-Welt – also ein Klimasystem, in dem die weltweiten Temperaturen im Mittel um zwei Grad über dem vorindustriellen Durchschnitt liegen – unterscheidet sich dramatisch von dem, was unsere heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme als gegeben für ihr funktionieren voraussetzen. Zum zweiten die Veränderungen in Teilen der Weltwirtschaft, die sich in Phänomenen wie Wachstumsschwäche, zurückgehender Produktivitätsfortschritt, Niedrigstzinsen und lang anhaltender säkularer Stagnation zeigen. Hier wird ein Übergang von der Wachstumswirtschaft in die Postwachstumswirtschaft deutlich, ohne dass wir uns bisher ernsthaft damit auseinandergesetzt haben. Schließlich die Digitalisierung der Gesellschaft hin zur Quantifizierung und Vernetzung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche. Digitalisierung ist dabei kein technisches Phänomen, sondern ein soziales, sie betrifft die Organisation des Wirtschaftens, die interne Logik der Wertschöpfung, aber auch die Art und Weise wie wir die Welt verstehen und konstruieren.
Gibt es auch paradoxe Entwicklungen?
Ein großer Widerspruch ist ja die Ankunft der Wissensgesellschaft auf der einen Seite, die durch und durch global ist und im Kern das enthält, was Ulrich Beck die ‚Reflexive Moderne’ genannt hat, also die Fähigkeit die selbsterzeugten Gefahren und Risiken zu antizipieren und damit umzugehen – während wir auf der anderen Seite eine radikale Abkehr von Wissen, von ‚Globalität’ und aufgeklärten Kosmopolitismus sehen, eine Wiederkehr des 19. Jahrhunderts und seiner Fixierung auf Nationalitäten und Ethnien.
Wie kann eine Welt in der die Komplexität, Ungewissheit und das Tempo immer weiter zunimmt funktionieren bzw. damit umgehen?
In dem wir zum einen von deliberaten Planungsprozessen, von großen wirtschaftlichen und politischen Designs etwas abrücken und den naiven Glauben an den Voluntarismus, an ein ‚Anything Goes’ ablegen. An die Stelle der Planung tritt das Experiment, an die Stelle großer gesamtgesellschaftlicher Entwürfe die dezentrale, lokale Suche nach neuen Arten zu Wirtschaften und zu Leben. Das soll nicht als Absage an globale Kooperation oder Utopien einer lebenswürdigeren Gesellschaft verstanden werden. Eher als Vorstoß zu einer neuen Bescheidenheit, ohne die der Mut zu großen Veränderungen in Übermut umschlägt.
Welche Rolle spielt dabei der globale Kapitalismus? Ist er am Ende?
Abgesänge auf den Kapitalismus sind meist verfrüht. Und sollte er tatsächlich an sein Ende gelangen, wird am Tag danach das große Wehklagen einsetzen. Sicherlich ist das Ende eines Casino-Kapitalismus an den Finanzmärkten oder eines psychisch wie ökologisch schädlichen Konsumentenkapitalismus zu begrüßen. Aber die grundlegende Vorstellung eines Wirtschaftssystems, das auf der Freiheit der Einzelnen beruht, ihre eigenen Fähigkeiten zu nutzen und von den Ergebnissen ihrer Fähigkeiten zu leben, scheint mir eher erhaltenswert. Am Grunde des Kapitalismus steht das moralfähige Individuum. Es hat die Wahl, es muss eine Wahl treffen. Vielleicht müssen wir auch den Kapitalismus vor sich selbst retten.
Unter dem Begriff „Globalisierung" werden die unterschiedlichsten Vorstellungen und Konzepte zusammengefasst. Was beschreibt der Begriff überhaupt?
Sicherlich hat der Begriff in der Vergangenheit vor allem die wirtschaftliche Integration von vormals mehr oder minder abgeschotteten Volkswirtschaften in ein globales Wirtschaftssystem beschrieben. Joseph Stiglitz spricht von Globalisierung immer dann, wenn entweder technischer Fortschritt Kommunikations- und Transportkosten senkt oder wenn institutionelle Hürden fallen, wie zum Beispiel nationale Grenzen durchlässiger oder Zölle gesenkt werden. Globalisierung hat aber immer schon eine kulturelle Komponente: der Andere rückt näher und damit auch andere Vorstellungen der Welt. Das weite Feld interkultureller Kommunikation, als wichtiger Bestandteil einer heutigen Managementausbildung, wäre ohne Globalisierung ja gar nicht notwendig. Und Globalisierung heißt natürlich auch, dass die Probleme in einem Teil der Erde immer auch Probleme für alle anderen Teile sind, siehe die Flüchtlingsthematik und natürlich den Klimawandel und seine Folgen.
Ist Wachstum ein notwendiger Garant für Wohlstand und sozialen Frieden – wie es aus der Politik und Wirtschaft als Mantra verbreitet wird?
Unsere bisherigen Wachstumsmodelle in den Wirtschaftswissenschaften können auf diese Frage nur mit Ja antworten. Das liegt aber nicht an der Unmöglichkeit einer Wirtschaft, die nicht wachstumsfixiert ist, sondern einzig und allein an der Unfähigkeit der Modelle, ohne Wachstum vernünftige Lösungen zu errechnen. Wenn selbst der Vater der modernen Wachstumsforschung, der Nobelpreisträger Robert Solow, davon spricht, dass der Kapitalismus auch ohne Wachstum funktionieren kann, dann haben wir es hier nicht mit einer fundamentalen Unmöglichkeit zu tun, sondern eher mit einer Blockade im Denken. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war wirtschaftliches Wachstum kein besonders bedeutsames Phänomen, erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten wir überhaupt eine Wachstumsexplosion. Wenn es eine Zeit vor dem Wachstum gegeben hat, dann wird auch eine Zeit nach dem Wachstum möglich sein. Wir müssen nur anfangen, unsere mentalen Schranken zu überwinden.
Wie könnte eine Postwachstumsökonomie aussehen?
Was wichtig ist zu betonen: auch wenn das Wachstum auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene nicht mehr so sein wird wie in der Vergangenheit, wird es durchaus Wachstumsprozesse von zum Beispiel Unternehmen geben. Die Logik der Produktion wird aber eine grundlegend andere sein. Der gesellschaftliche und ökologische Mehrwert steht im Vordergrund. Der kann nämlich durchaus weiter wachsen. Entscheidend für Unternehmen ist hier zum einen die Entwicklung neuer Bewertungsinstrumente für sozialen und ökologischen Erfolg – und die entsprechenden staatlichen Rahmenbedingungen, dass dieser auch entsprechend gewürdigt und entlohnt wird. Was aber noch viel wichtiger werden wird, ist die Antwort auf die Frage, auf was das eigene Geschäft eigentlich beruht. Wenn es einseitig davon abhängt, Produkte mit hohem Ressourcenverbrauch oder CO2-Ausstoß zu verkaufen, dann ist das Ende der Fahnenstange schnell erreicht – vor allem wenn gleichzeitig die Märkte immer mehr gesättigt sind und die Kunden einfach nicht mehr kaufen wollen. Eine Strategie, bei der Unternehmen durchaus noch gewinnen können, ist der Verkauf von Suffizienz an Kunden, also der Hilfe zur Entschleunigung und Entrümpelung ihrer Lebensstile. Auch die Bereitstellung von Subsistenzwerkzeugen, wie Ivan Illich das nennt, kann helfen, die wachstumsabhängige Fremdversorgungswirtschaft in Richtung mehr Selbstversorgung und auch Selbstermächtigung zu verändern. Die Postwachstumsökonomie ist ein bunter, vielfältiger Ort und das Einzige, was uns den Weg versperrt, wie bereits genannt, ist unsere eigene Vorstellungskraft.
Wie werden sich Unternehmen, Management und Führung im Zeitalter der Digitalisierung verändern bzw. verändern müssen?
Führung in der digitalen Ökonomie bzw. im Rahmen einer Verschmelzung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung zu einer Sustainability 4.0 wird anders laufen müssen. Wenn wir es hier mit einer Selbstermächtigungswirtschaft zu tun bekommen, an deren Grunde ko-kreative Wertschöpfung steht und auch die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten nicht mehr unverrückbar ist, dann funktioniert ein ‚Scientific Management’ aus command & control einfach nicht mehr. Selbst Motivation funktioniert dann anders. Die Leute sind schon motiviert, wenn sie mitmachen, da kann eine Führungskraft gar nichts mehr tun. Auch der Begriff der Führungskraft wird ein anderer sein: nicht mehr personal, sondern eher ‚physikalisch’. Es geht um Kräfte, die führend wirken in einem Gesamtzusammenhang. Führung ist damit nur noch dezentriert und unpersönlich zu denken. Das heißt nicht, dass es nicht mehr auf die Einzelnen ankommt. Ganz im Gegenteil, es wird vollständig auf jeden Einzelnen ankommen. Management im Zeitalter der Digitalisierung ist dann ein Bereitstellen von Kontexten, von Arbeitszusammenhängen, die dann von allen Führungskräften verändert wird. Eine solide systemtheoretische und auch philosophisch fundierte Managementausbildung wird dabei unerlässlich.
Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. André Reichel ist Professor für Critical Management & Sustainable Development an der Karlshochschule International University in Karlsruhe und ein Gesicht der Nachhaltigkeit. Herr Reichels Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich einer nachhaltigen Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft und der betriebswirtschaftlichen Perspektive auf die Postwachstumsökonomie, insbesondere auf wachstumsresiliente Geschäftsmodelle und neue Erfolgsindikatoren. Kernthemen sind dabei die Verschmelzung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung zu einer Sustainability 4.0, die sozialen Innovationen für eine Next Economy sowie die Systemtheorie im Management.
Marco Englert ist Manager, Berater und Coach. Als Director Strategy & Corporate Development verantwortet er bei der brainLight GmbH die Modellierung und Umsetzung der nachhaltigen Managementstrategien. Er verfügt über exzellentes Research- und Consulting-Know-How und hat mehrjährige Erfahrung in der Begleitung von Entscheidungsträgern bei den komplexen Fragestellungen des beruflichen Alltags.
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