„In der Wildnis liegt die Hoffnung der Welt"

Christoph Quarch sucht die schöpferische Kraft zur Veränderung in der wilden Natur

Vergangene Woche ging eine unscheinbare Meldung durch die Nachrichtenrubriken: Eine Umfrage des ZDF-Fernsehmagazin Frontal21 hat ergeben, dass Deutschland beim Naturschutz weit hinter den eigenen Vorgaben zurückbleibt. So schreibt das Bundesamt für Naturschutz vor, dass mindestens zwei Prozent der Landfläche als Wildnisgebiete ausgewiesen sein müssen. Tatsächlich gibt es bundesweit aber nur 0,6 Prozent Wildnis. Kein einziges Bundesland erreicht die Vorgabe. Unser Philosoph Christoph Quarch sieht darin ein Problem. Nicht nur für die Natur, sondern auch für die Gesellschaft.

Woong Hoe, pixabay.comHerr Quarch, warum ist ihnen die Wildnis so wichtig?
Wie Sie schon sagen: in verschiedener Hinsicht. Aus ökologischer Perspektive brauchen wir großflächige Wildniszonen von mindestens 1.000 Hektar, damit sich die Natur nach ihren eigenen Regeln erholen und regenerieren kann. Das ist der beste Schutz vor Insektenplagen oder Artensterben. Davon gibt es in Deutschland aber viel zu wenig. Das bevölkerungsreichste Flächenland Nordrhein-Westfalen kommt nur auf 0,19 Prozent Wildnis in der Kernzone des Nationalparks Eifel. Das ist lächerlich und traurig zu gleich. 
 
Aber die Regierung arbeitet daran. Angela Merkel forderte beim Biodiversitätsgipfel in New York im September 2020 eine globale Trendwende. Wörtlich sagte sie: „Wir müssen Schutzgebiete ausweiten, wir müssen Ökosysteme renaturieren.
Ja, das sagt sie: die Kanzlerin der Ankündigungen. Aber wie so oft folgen auf ihre Worte keine Taten. Dabei dürfte die Akzeptanz der Bevölkerung groß sein, wenn neue Nationalparks oder Schutzgebiete ausgewiesen werden. Das zeigt das Beispiel Spessart-Steigerwald, wo die Grünen einen neuen Nationalpark fordern. Allerdings bekleckern sie sich bei diesem Thema ansonsten nicht gerade mit Ruhm. In den von ihnen regierten oder mitregierten Ländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen sind die Wildnisquoten trotz riesiger Waldbestände verschwindend gering. Das lässt ahnen, für wen dort Politik gemacht wird: für die – meist staatliche – Forstindustrie und nicht für die Natur. 
 
Die Länder brauchen die Einnahmen aus der Forstwirtschaft. Da kann man die Prioritätensetzung verstehen.
Verstehen kann man viel. Auch Dummheiten. Und damit haben wir es hier zu tun. Denn Wildnis zu vernichten bedeutet nicht nur, ökologisch an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt. Es bedeutet auch, die menschliche Kultur zu gefährden. Es gibt auch eine Wildnis in uns. Das hat etwas mit unserer evolutionären Herkunft zu tun und zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Frühere Kulturen hegten diese Wildnis durch Kulte, Feiern oder Zeremonien. Sie gaben der Wildnis unserer Seele einen geschützten Raum – eine Art kulturelles Naturschutzgebiet. In der westlichen Kultur haben wir damit gebrochen. Seit dem 17. Jahrhundert glauben wir, Natur und Wildnis beherrschen zu können. Umso vernichtender ist das Wilde in den Kriegen der jüngeren Vergangenheit ausgebrochen.
 
Sie sehen also einen Zusammenhang zwischen der schwindenden Wildnis um uns und der Unterdrückung der Wildnis in uns? Das ist eine ziemlich steile These.
Mag sein, aber ich bin nicht der einzige, der sie vertritt. John Muir, der Erfinder der amerikanischen Nationalparks sagte: „In der Wildnis liegt die Hoffnung der Welt". Und damit meinte er sowohl die Wildnis um uns als auch die Wildnis in uns. Denn in beiden schlummert die schöpferische Kraft zur Veränderung. Muir wusste das. Er sagte auch, er gehe in die Wildnis, um seinen Verstand zu verlieren und seine Seele zu finden. Ich glaube, genau das ist es, was wir dringend brauchen: unsere natürliche, wilde und gerade darin unberechenbare und schöpferische Seele wiederfinden. Gerade jetzt: Denn wenn wir das nicht tun, wird unser Land vollends zur vollständig domestizierten Seniorenresidenz.

Der Philosoph Christoph Quarch schreibt regelmäßig für forum Nachhaltig Wirtschaften. © Christoph Quarch
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."

Hören Sie ihn persönlich im SWR-Podcast Frühstücks-QuarchLesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
 
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".

Umwelt | Naturschutz, 02.03.2021

     
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