Die Sudbury-Schulen

Lernen in völliger Freiheit

Sie wollen Schule ganz neu denken; zwischen Lernen und Spielen wird nicht mehr unterschieden: Die Sudbury-Schulen leben unter den alternativen Schulen das radikalste Konzept von Freiheit.

 Im Baumhaus abhängen – an Sudbury-Schulen ist es möglich. Lockeres Beisammensitzen während der Schulzeit ist ganz normal. © Monika Diop-WernzIn der Schule den ganzen Tag Computerspielen – an Sudbury-Schulen ist es möglich. Es gibt keine verpflichtenden Lerninhalte oder Prüfungen, keine festen Unterrichtseinheiten, keine Klassen und schon gar keine Noten. Sudbury-Schüler entscheiden frei, was sie an der Schule tun und lassen wollen und sei es faulenzen – oder eben Computerspielen.

Wo bleibt das Lernen? Wo bleibt die Vorbereitung auf das Leben? Es stellen sich einem viele zweifelnde Fragen, wenn man sich diesem Konzept nähert. Und doch wird man mit dem Erfolg der weltweiten Sudbury-Absolventen konfrontiert: Sie gehen selbstbestimmt ins Leben, werden Unternehmer, gehen auf Universitäten. Wie ist das möglich?

Schule als Ort der Selbstbestimmung
Wer lernen will, so die Idee, muss nicht von außen dazu gedrängt werden, sondern trägt diese Motivation von vornherein in sich. Kinder sind demnach von Natur aus neugierig. Sie wollen lernen und sich in der Welt, in der sie leben, zurechtfinden. Damit diese Lust am Lernen aber zum Tragen kommen kann, brauchen Menschen dem Sudbury-Konzept zufolge ein Umfeld, in dem sie frei von Angst und Druck sowie frei von Vorgaben ihren eigenen Interessen nachgehen können, Erfahrungen sammeln können und Fehler machen dürfen. Sie brauchen ferner ein Umfeld, in dem sie Vertrauen erfahren, ermutigt werden und sich angenommen fühlen, kurzum, indem sie sie selbst sein können. Unter solchen Bedingungen, glaubt man, findet das Lernen am effektivsten statt. Die Konsequenz: Die radikale Freiheit der Schüler, über ihre Tätigkeiten an der Schule selbst zu bestimmen.

An Montessori-Schulen findet ebenfalls die berühmte „Freiarbeit" statt. Doch hier möchte man die Kinder über das Freiarbeiten durchaus an bestimmte Lernziele und letztendlich an staatliche Abschlüsse heranführen. Das bedeutet konkret: Wenn ein Kind zu lange nur „spielt" oder sich zu lange einseitig mit einer Sache beschäftigt, würde man an Montessori-Schulen versuchen, es sanft zu anderen Bereichen hinzulenken. An Sudbury-Schulen hingegen verzichtet man gänzlich sowohl auf Lernziele als auch auf Bewertungen der Tätigkeiten, die Schüler ausüben. Ob ein Kind spielt oder lernt, wird nicht mehr unterschieden.

Die Freiheit im Lernen ist an Sudbury-Schulen aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite werden hier sehr genaue Regeln bestimmt. Das menschliche Miteinander, in welchen Räumen Ruhe geboten ist, wie man den Computer benutzt, was man tun muss, um ein Buch auszuleihen oder im Labor zu experimentieren, all dies bestimmen – na klar, die Schüler. Sie haben gemeinsam mit den Lehrern unabhängig vom Alter eine gleichberechtigte Stimme in der Schulversammlung. Dieses kollegiale Miteinander soll Toleranz und Aufgeschlossenheit fördern und junge Menschen dazu ermutigen, sich aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Wer eine Regel bricht, muss sich dafür vor dem Justizkomitee verantworten. Von Fall zu Fall sind die Konsequenzen andere: Mal muss ein Kuchen gebacken, mal ein Raum geputzt werden, mal ein demoliertes Fahrrad selbst repariert werden. Durch diese Regeln geht es an Sudbury-Schulen durchaus sehr strukturiert zu. „Das Chaos, das Kritiker dort vermuten, habe ich nirgendwo gefunden!", sagt die Münchner Pädagogin Monika Diop-Wernz. Sie wollte es genau wissen, wie dieses Konzept funktioniert und hat sich auf die Reise gemacht zu den Sudbury-Schulen der Welt.

Lernen – ganz nebenbei
Nur Backen oder Lernen: Hier wird nicht unterschieden. Das ist Projektlernen der feinen Art. © Monika Diop-WernzSie erlebte in den Schulen, wie die Kinder mehr oder weniger nebenbei die Grundfähigkeiten erwarben. „Ich habe kein Kind erlebt", so Diop-Wernz, „und von keinem einzigen gehört, bei dem dies anders war – ausnahmslos!" Der Pädagogik-Professor und Lernforscher Ulrich Klemm, der sich eingehend mit Sudbury beschäftigt hat, bestätigt, dass es weltweit keinen bekannten Fall von Analphabetismus bei Sudbury-Schülern gebe. Warum? Nur wer lesen kann, ist in der Lage, bei bestimmten Spielen mitzumachen. Nur wer schreiben kann, hat die Chance, aktiv an der Schulversammlung teilzunehmen, weil er vielleicht eine Regel ändern möchte. Und wer Backen oder mit Geld umgehen möchte, muss rechnen können. In dem Moment also, in dem ein Schüler eine bestimmte Fähigkeit für seinen Alltag braucht, entsteht ganz von alleine die Motivation, sich diese anzueignen – so zeigt es die jahrzehntelange Erfahrung. Und dabei ist es dann nicht mehr entscheidend, ob ein Kind mit fünf, sechs oder neun Jahren diese Fähigkeiten erwirbt. Der solcherweise angeeignete Lerninhalt bleibt der Idee nach letzten Endes im Menschen ganz anders hängen als ein nur gepaukter „Stoff".

Bei den Schülern jedenfalls scheint das Konzept anzukommen: Diop-Wernz erzählt von Kindern, die mit Begeisterung in die Schule gehen, die traurig sind, wenn die Ferien beginnen und die ihre Tische mit Liebesbekundungen an ihre Schule verzieren.

Jedoch kommt auch klassischer Unterricht an den Sudbury-­Schulen vor, meist in Kleingruppen oder auf Eins-zu-eins-Basis mit einem Lehrer. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn ein Schüler einen staatlichen Schulabschluss machen möchte. Dann wendet er sich an einen Lehrer, hier Mitarbeiter genannt, und dieser unterstützt ihn anschließend dabei, sich den erforderlichen Stoff anzueignen.

Von den Absolventen werden manche Handwerker, einige jobben eine Weile in Cafés, bevor sie sich entscheiden, andere gehen zur Universität. Eine Sudbury-Absolventin aus Maryland sagte: „Ich kenne niemanden von meiner Schule, der es nicht geschafft hat, auf ein ausgewähltes College oder die Uni zu kommen, wenn er es wirklich wollte."

Die Freiheit aushalten können
© Monika Diop-WernzAuch Schüler können an Sudbury-Schulen Unterricht geben. Diop-Wernz erzählt von einer chinesischen Sudbury-Schülerin, die auf den Golanhöhen in Israel Chinesisch-Stunden abgehalten hat; von einem Schüler in Jerusalem, der über ein Jahr lang einen Theaterkurs gegeben hat, der immer proppenvoll war; oder von einem Jungen in Fairhaven, der eine Reptilienshow veranstaltete, nachdem er ein Praktikum in einem Nationalpark gemacht hatte. „Es war ihm anzusehen, wie stolz er war."

Sie erzählt ferner von Sudbury-Schülern, die kleine Unternehmen gegründet und verschiedenste originelle Projekte ins Leben gerufen haben. Und sie erzählt auch von dem Scheitern, das die Schüler dabei oft erleben mussten und wie viel sie dabei gelernt haben. Der bequemste Weg sei das freilich nicht, sagt sie. Ganz im Gegenteil: Freiheit könne ganz schön fordernd sein. Wo einen niemand pusht, müsse man selbst durch seine Zweifel gehen und auch Langeweile aushalten. Am schwierigsten sei dies erfahrungsgemäß für Schüler, die zuvor eine Regelschule besucht haben und es gewohnt waren, dass andere für sie entscheiden.

Generell sei es keine heile Welt, die man an den Sud­bury-Schulen vorfindet, so Diop-Wernz. Die Gesellschaft mit ihren Themen dringe auch in diese Schulen ein. Vielleicht sogar ungefilterter als in andere, weil hier nichts zensiert wird.

Was aber, wenn Schüler den ganzen Tag Computer spielen? An Sudbury-Schulen ist man überzeugt davon, dass Lernen immer stattfindet. Egal, ob jemand ein Buch liest, mit anderen diskutiert, Karten oder Theater spielt – er setzt sich damit auseinander, macht Erfahrungen. Und das gilt der Idee nach auch für den Umgang mit den Medien. Indem die Kinder die Möglichkeit haben, etwas vollkommen frei auszuprobieren, können sie demnach auch ein Gespür dafür entwickeln, was ihnen gut tut und was nicht. Sie sollen dadurch ihre eigenen Kräfte kennenlernen, um später die Herausforderungen des Lebens besser und selbständiger meistern zu können.

Und wie weit nutzen die Schüler tatsächlich die Möglichkeit, den Computer uneingeschränkt benutzen zu können? In der Anfangszeit sehr viel, erzählt Diop-Wernz. Aber mit der Zeit fände jeder seinen Weg, eigenverantwortlich damit umgehen zu können. Sucht in jeder Hinsicht, sagt sie, sei die Kompensation irgendeines Mangels. In einem gesunden sozialen Umfeld, in dem man sich frei entfalten kann, würden Süchte wie eine Computersucht deshalb gar nicht erst entstehen.

Dass die Sudbury-Schulen mit ihrem Konzept anecken, ist verständlich. „Aber später haben die Kinder doch auch nicht solche Freiheiten!", wenden Kritiker ein. Monika Diop-Wernz hält dagegen: „Es ist ja nicht zwingend, dass unser Arbeitsleben von Stress bestimmt ist! Das Leben muss nicht hart sein! Auffallend viele Ehemalige sind heute Unternehmer und bestimmen auch weiterhin über ihren Arbeitstakt und ihre Arbeitsmethoden selbst. Allgemein sind die Sudbury-­Absolventen, die ich kennengelernt habe, keine Träumer, sondern sehr realistisch und bodenständig, dabei aber offen und respektvoll gegenüber verschiedenen Wegen."

In Deutschland vor Gericht
Die erste Sudbury-Schule wurde vor über 50 Jahren im Sudbury-Valley in Massachusetts gegründet. Seitdem entstehen weltweit immer neue Schulen – insgesamt sind es etwa 70. In Deutschland gibt es in mehreren Städten Initiativen, welche die Gründungen von Sudbury-Schulen vorbereiten. Eine Genehmigung zu bekommen, ist schwer. Immerhin: Vor zehn Jahren wurde die Neue Schule Hamburg als erste deutsche Schule, die sich an Sudbury orientiert, eröffnet.

2014 erhielt außerdem in Dießen am Ammersee eine Sud­bury-Schule die Genehmigung für zwei Jahre. 2016 wurde diese jedoch vom bayerischen Kultusministerium nicht verlängert. Die Begründung des Staates: Es sei nicht genug gelernt worden. Die Schule kontert, sie habe ihre beiden Auflagen, nämlich wissenschaftliche Begleitung und Dokumentationen über die Entwicklung der Schüler, erfüllt. Sie hat gegen ihre Schließung geklagt. Der Prozess läuft noch und hat sich bereits als äußerst schwierig entpuppt. Wie kann ein Lernerfolg gemessen und bewertet werden? Dies ist dabei die Kernfrage. Wenn ein Schüler zuvor Schulverweigerer war und wieder gerne in die Schule geht; wenn jemand vorher Ritalin nehmen musste und anschließend wieder konzentriert seinen Leidenschaften nachgehen kann; oder wenn jemand das Leben und die Schule als sinnlos ansah und dann wieder Lernfreude entwickelt – all dies sieht die Schule als großen Lernerfolg an. Ob dem Gericht und letztlich dem Staat solche Argumentationen ausreichen, bleibt eine spannende Frage. Denn wie auch immer man das Sudbury-Konzept in seiner Radikalität bewertet – die Antwort wird zukunftsweisend für unsere Schulkultur als Ganzes sein.

Interviews mit Sudbury-Schülern: sudbury-schools-interviews.com
 
Alrun Vogt studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Linguistik mit den Schwerpunkten „Theorien der gerechten Verteilung" und Wirtschaftsgeschichte. Sie arbeitete für die Süddeutsche Zeitung und lehrt zum Thema Geld- und Wirtschaftsordnung. In ihrem Buch „Wirtschaft anders denken" deckt sie auf leicht verständliche Weise die Mechanismen und Hintergründe unseres Geld- und Wirtschaftssystems auf und beschreibt die maßlosen Spekulationen als zwangsläufige Symptome dieses Systems. Sie stellt darüber hinaus praktikable Lösungen vor, wie es umgestaltet werden kann, um Wohlstand für alle zu erzeugen.

Gesellschaft | Bildung, 01.09.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/03 2018 - Wasser - Grundlage des Lebens | Bildung erschienen.
     
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