Führungskultur im 21. Jahrhundert
Von der strategischen zur intuitiven Führung
Während seiner Zeit als britischer Premierminister sagte Tony Blair, dass sich Unternehmen auf das Geldverdienen konzentrieren und soziale Fragen anderen überlassen sollten. Diese Ansicht ist wohl so überholt wie die Aussage von Bundeskanzler Helmut Schmidt „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen".
Statt als Motor des von uns angestrebten Wohlstands zu gelten, werden Unternehmen, insbesondere Großunternehmen, heute als Ursache von vielerlei sozialem Übel gesehen. Sie spielen bis auf eine Prise CSR-Engagement offiziell keine Rolle bei der Bewältigung der komplexen sozialen Fragen, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Big Business bleibt die Luxus-Villa der Raubritter des 21. Jahrhunderts, ohne Rücksicht auf Verluste. Das wird unsere Gesellschaft nicht mehr lange hinnehmen. Deshalb brauchen wir mutige, visionäre Lösungen gerade für die Wirtschaft, da sie unser aller Leben maßgeblich bestimmt. Ansätze wie „Social-Business" und „Responsible Business" zeigen, dass die Welt der Ökonomie vor einem grundlegenden Paradigmenwechsel steht.
Was hat sich verändert?
Die Kultur des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich grundlegend von den letzten Tagen des 20. Jahrhunderts Tony Blairs. Damals konnten sich Unternehmen von den chaotischen ethischen und sozialen Herausforderungen fernhalten. Hauptsache sie hielten sich an die gesetzlichen Regeln und verdienten Geld. Heute dagegen – in Zeiten von Social Media – haben Unternehmen und ihre Führungskräfte keine andere Wahl mehr. Sie müssen sich auf die kulturellen, sozialen und moralischen Fragen einlassen und eine direkte Verantwortung für deren Bewältigung übernehmen. Dafür ist eine andere, neue Art von Führung gefragt, die tiefer in den Gegebenheiten der heutigen Zeit verankert ist. Doch wie kann dieser Führungsstil entwickelt werden?
Es ist nicht so einfach
Für einige scheint die Antwort glasklar. Unternehmer müssen die Kultur ihrer Organisation verändern, um sie sozial verantwortlicher zu machen. Das ist ein annehmbarer Ausgangspunkt. Aber es ist auch nicht mehr als ein Anfang. Es scheint erst gestern gewesen zu sein, als Anthony Jenkins, der neuernannte CEO der Barclays Bank sein Transformationsprogramm ankündigte, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen. Gerade mal ein Jahr später entschied er dann doch, trotz einbrechender Gewinne, die Boni zu erhöhen – für viele eine beschämende Bestätigung all dessen, was mit dem Bankwesen nicht stimmt.
Ist „Big Business" die luxuriöse Burg der Raubritter des 21. Jahrhunderts?
Was ist das Problem? Wir müssen davon ausgehen, dass Personen wie Jenkins ehrlich darum bemüht sind, Veränderungen herbeizuführen. Er, wie viele andere CEOs großer Unternehmen, scheitert bereits an der ersten Hürde: Den guten Willen in die Tat umzusetzen und damit einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Doch woran liegt es, dass es hoch qualifizierten Führungskräften mit scheinbar guten Absichten so schwerfällt alte – und heute kulturell inakzeptable – Verhaltensmuster zu durchbrechen?
Umschwung auf kulturelle Führung
Wir verwenden den Begriff ‚Kulturelle Führung‘, um einen Führungsansatz zu beschreiben, der die Interdependenz zwischen den Organisationen und dem relevanten kulturellen Kontext in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet eine erhebliche Bewusstseinsveränderung: Die Führungskräfte müssen lernen, ihre Rolle in einem erheblich größeren Zusammenhang zu verstehen. Ein solches Verständnis geht weit über Existenzsicherung, Wachstum und Shareholder-Value hinaus und schließt die weitreichenden Auswirkungen der Entscheidungen auf das Wohlergehen der Gemeinschaft und der Gesellschaft mit ein. Zwei Schritte sind notwendig, um Kulturelle Führung zu verwirklichen.
Strategie loslassen
Der erste ist, von Strategie als treibender Kraft der Unternehmensausrichtung Abstand zu nehmen. Der Gedanke einer langfristig angelegten Strategie und deren penibler Umsetzung basiert nämlich auf zwei impliziten Annahmen. Die erste ist, dass wir eine gute Vorstellung von der Zukunft haben. Die zweite ist, dass es ein gewisses Maß an Stabilität in der Wirtschaft gibt. Doch in einer schnelllebigen, sich ständig wandelnden, ungewissen, postmodernen Welt hat dieses traditionelle Strategieverständnis wenig Wert. Geschäftsstrategien müssen vielmehr fließend und dem immer schneller werdenden Wandel anpassbar sein. Während wir alle verstehen, dass anpassungsfähige Strategien notwendig sind, um auf die rasanten Veränderungen – zum Beispiel technologischer Art – reagieren können, fällt uns die Anpassung an kulturelle Veränderungen deutlich schwerer. Es scheint kaum möglich, sich in einer postmodernen Kultur zurechtzufinden, die völlig unberechenbar, undurchsichtig, unkontrollierbar und oft chaotisch ist und in der Stabilität, Kontinuität und Autorität konterkulturell sind.
Strategie als höchstes Instrument für Führung und Management hat ausgedient!
In einem solchen Umfeld muss sich die Strategie Faktoren wie Sinn, Werte, Überzeugungen, Gefühle, Ethik und anderen immateriellen Ideen unterordnen. Solche Konzepte sind jedoch vielen Führungskräften suspekt, da sie sich nicht zur rationalen Analyse oder als Basis für klassische Finanzmodelle eignen. Um aber den kulturellen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen, darf Strategie nur noch eine schnell anpassbare und flexible Brücke sein zwischen Zweck und operativer Exzellenz – und nicht mehr höchstes Instrument für Führung und Management.
Der zweite notwendige Änderungsschritt ist für Führungskräfte zu lernen, ihre Organisationen von außen nach innen, anstatt von innen nach außen zu betrachten.
Ein Blick von außen nach innen
Manchmal denke ich, dass die meisten von uns – Konzernmagnaten, Entscheidungsträger und andere Führungskräfte eingeschlossen – angekettet sind wie die Gefangenen in Platos Höhle. Nur die Wand vor uns sehend, während sich vor der Höhle die Welt weiterdreht. Und alles, was wir sehen, sind die verzerrten Schatten der Realität an der Wand. Und wir glauben, diese Schatten seien die Realität. Wir leben weitgehend in unserer eigenen Welt. Wir umgeben uns nur mit Menschen, die mehr oder weniger sind wie wir. Wir lesen Zeitungen, die unsere eigenen Ansichten widerspiegeln. Für viele Großunternehmen gilt das ebenso. Der Geschäftsleitung werden verzerrte Schatten vorgelegt, wie beispielsweise Marktforschungs-Studien von Drittanbietern, deren Ergebnisse vorab gefiltert und wieder gefiltert werden. Dabei werden alle Informationen stets durch die operative Linse des eigenen Unternehmens interpretiert. Wir verbringen zu viel Zeit damit, uns Tabellen, PowerPoint-Präsentationen und perfekt präsentierte Berichte anzusehen, statt uns mit unseren Kunden in der realen Welt sowie den Einstellungen, kulturellen Normen und Überzeugungen auseinanderzusetzen, die sich außerhalb der heiligen Mauern unserer eigenen Organisationen verbreiten.
Wir sehen uns die Welt von innen nach außen an, d.h. rein aus der Perspektive des Unternehmens, der Institution, des Stammes oder Berufsverbands, dem wir angehören. Unsere bisherigen Erfolge sind ein weiterer Filter, der uns davon überzeugt, dass unsere Betrachtungsweise der Welt die richtige ist. Wir übersehen, dass die zeitgenössische Kultur die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir agieren, grundlegend verändert.
Kulturelle Führung impliziert die Entwicklung der Fähigkeit, unsere Organisationen von außen nach innen zu betrachten. Wir müssen lernen, unsere Unternehmen durch die Brille anderer wahrzunehmen. Ein solches Verständnis geht über die statischen Modelle der Finanzwelt hinaus. Wir brauchen ein lebendigeres, wenn auch notwendigerweise unvollständiges Verständnis des sozialen Ökosystems, das organisch ist, fließend, dynamisch, unberechenbar und angetrieben von einer sich revolutionär schnell ändernden Kultur. Es ist bevölkert von Menschen, die sich nicht in das ökonomische Weltbild eines rationalen Akteurs einordnen lassen wollen. Mit anderen Worten: ein System, das menschlich fließend und nicht rein finanziell determiniert ist. Unternehmen müssen deshalb das, was ich „kulturelle Antennen" nenne, in ihre DNA integrieren, statt weitere Studien und Berichte anzufordern.
Ändern, wer wir sind
Das alles scheint schlechthin gesunder Menschenverstand zu sein und einfach umzusetzen. Dabei werden die Herausforderungen eines kulturellen Wandels häufig unterschätzt – was der Grund ist, warum die meisten Change-Programme fehlschlagen. Es geht nicht nur um operative Veränderungen (dies ist der einfachste Aspekt), sondern um eine Neudefinition der eigenen Identität – in erster Linie für die Führungskräfte und dann für den Rest der Organisation.
Das stellt jedoch einen sehr grundlegenden Wandel dar für alle, die ihr Leben lang in der Wirtschaft verbracht haben. Es erfordert, die Bedürfnisse der Organisation und ihrer Aktionäre aus dem Mittelpunkt des Denkens und Handelns zu nehmen und stattdessen den breiteren Kontext der Gesellschaft und der zeitgenössischen Kultur in den Fokus zu rücken. Das widerspricht allem, was in den Business-Schulen gelehrt und als Grundlage persönlichen Erfolgs angesehen wurde. Und es erfordert eine grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung der Rolle von Führungskräften.
Wir neigen dazu, in unserer eigenen Welt zu leben. Was nicht „rational" ist, mag realistischer sein als die „tatsächliche" Realität.
Erfolg geht über den Einzelnen hinaus
Über die Psychologie der Veränderung und die Rolle von Bewusstseinsverschiebung in Bezug auf Führungserfolg ist viel geschrieben worden. Man liest von der Bedeutung des Double-Loop-Learning Frameworks. Es beschreibt, wie wir Ereignisse interpretieren und beschreibt Ansätze zur Lösung adaptiver Herausforderungen, für die es keine fertigen Antworten gibt. Und es thematisiert zunehmend die Bedeutung von Achtsamkeitstrainings. Es stehen viele Tools zur Verfügung die den Führungskräften helfen sollen, in diesen turbulenten Zeiten erfolgreich zu sein. Die Ansätze gehen in die richtige Richtung, fokussieren aber zu sehr auf die Einzelperson anstatt auf das gesamte Team.
Während Unternehmen Methodenkompetenz und Managementfähigkeiten von Einzelpersonen inzwischen ziemlich gut beurteilen können, fehlen die erforderlichen Fähigkeiten, Führungsteams zusammenzustellen, die über alle notwendigen Komponenten verfügen, um ein Unternehmen in Richtung Kulturelle Führung voranzutreiben. Ein Team, das im heutigen kulturellen Milieu erfolgreich sein will, muss über die bloße Ansammlung von hochleistungsfähigen Einzelpersonen hinausgehen. Unsere Arbeit mit unterschiedlichen Organisationen hat verdeutlicht, dass einigen Führungsteams die Ausgewogenheit und Struktur fehlt, um zu erkennen, was sie überhaupt gemeinsam erreichen wollen.
Teams dürfen keine Ansammlung hochleistungsfähiger Einzelpersonen mehr sein.
Erfolg in der Kultur des 21. Jahrhunderts
Ich bin der Meinung, dass das, was um uns herum passiert, eine der dramatischsten kulturellen Veränderungen seit fünfhundert Jahren ist. Die zentralen „De-Realisierungs"-Ideen, die hinter unserer oftmals verwirrenden postmodernen Kultur stecken, wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert erkundet (Kant, Nietzsche, Kierkegaard) und von Lyotard 1979 explizit verdeutlicht. Aber erst jetzt spüren wir die wahre Kraft dieses kulturellen Wandels – auch beschleunigt durch die digitale Revolution. Eine Transformation, die viele verunsichert und desorientiert. Wie kann sich Führung im Angesicht eines solchen kulturellen Wandels anpassen und weiterhin erfolgreich sein? Eine Hinwendung zur Kulturellen Führung kann meines Erachtens durch ein umfassendes Programm mit zwei Hauptaspekten erreicht werden. Einer Untersuchung, ob bestehende Führungsteams in der Lage sind, echte Veränderungen herbeizuführen, statt nur den operativen Erfolg unter traditionellen Rahmenbedingungen – die Grundlage des bisherigen Erfolgs waren – aufrecht zu erhalten. Und durch die Integration „kultureller Antennen" in die Organisationen. Diese können helfen, einen breiteren motivierenden und nachhaltigen Sinn der unternehmerischen Tätigkeit zu finden.
Wie sich ein Samenkorn öffnet, um das Wachstum einer Pflanze zu ermöglichen, müssen wir uns selber öffnen, um die nächste Stufe zu erreichen. Wenn wir es Führungskräften ermöglichen wollen, wirkliche Veränderungen zu erreichen, brauchen wir Ansätze, die sie dazu einladen, ihre Überzeugungen und Gefühle als Produkte ihrer Konditionierung zu sehen und nicht als integralen Bestandteil ihrer Identität.
Dr. Joe Zammit-Lucia ist Kurator von radix.org.uk, einem parteiübergreifendem Thinktank. Er berät Führungskräfte, ist Unternehmer und Investor. Sein besonderes Interesse gilt der Überschneidung von Politik und Handel. Er ist Autor zahlreicher Publikationen u.a. von „The Death of Liberal Democracy?" (2016) und Kommentator für wirtschaftliche und politische Themen in U.K., den Niederlanden, Malta und den USA.
Wirtschaft | Führung & Personal, 01.02.2017
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