Es heißt Wir-tschaft und nicht Ich-schaft

Wie geht Erfinden? Welche Zukunftsschmieden arbeiten an der Welt von morgen?

Für diese 3-teilige Serie hat unser Autor in acht Ländern 18 Future Labs, Co-Creation-Centers und Think Tanks besucht. Diesmal: Co-Creation.
 
Kreativität auf engstem Raum: Die Stipendiaten des Kreativlabors Fabrica leben in WGs zusammen, damit die Ideen rund um die Uhr sprudeln können. © ReedYoungFabrica Starten wir mit einem Ausflug an den Beginn unseres eigenen Lebens: Bereits hier zeigt sich, dass sich in der Natur ein geniales System von Co-Creation entwickelt hat, vom gemeinsamen Erschaffen. Denn der Mythos vom schnellsten Spermium ist falsch. Da findet kein Wettlauf zur Eizelle statt. Zusammenarbeit und Teamarbeit sind angesagt. Hier geht es nicht um Wettschwimmen. In Wirklichkeit zieht eine Art Shuttle-Service durch Muskelkontraktionen der Gebärmutter die vielen Spermien nach oben. Schließlich kommt ihnen das Ei selbst entgegen. Und die Geißel jedes Spermiums wird nicht zum Schwimmen verwendet, sondern für gezielte Schläge, um die Außenschicht des Eis aufzulösen. Eine Samenzelle alleine wäre mit dieser Aufgabe heillos überfordert. Nur gemeinsam, im Team, ist sie zu lösen. Welches Spermium schließlich hineinflutscht, ist purer Zufall. Co-Creation at work!1

Ein Wunder an Zusammenarbeit begründet also unser Leben. So beruhen auch Wirtschaftsprozesse ursprünglich auf Kooperation. Sichtbar ist dies noch im Wort Company. Es leitet sich aus dem Lateinischen ab: Cum panis. "Mit denen ich das Brot teile". Mit meinen Kompagnons, mit meinen Kumpeln, Kumpanen. Heute entdecken viele Menschen diesen ursprünglichen Aspekt des Wirtschaftens neu: Dass nämlich die grundlegende Basis einer Wir-tschaft in Zusammenarbeit und Vertrauen besteht. Doch wo wird dieses Co-Kreieren vorgelebt?

Reise ins Unbekannte
Treviso, Oberitalien. Hier, 30 km von Venedig entfernt, liegt nicht nur der Stammsitz der Benetton Group mit einem Umsatz von gut 2 Mrd. Euro und fast 10.000 Mitarbeitern. Hier hat Luciane Benetton vor 20 Jahren auch Fabrica gegründet, eine Art Kreativlabor, in dem Co-Creation radikal praktiziert wird. Jedes Jahr bekommen 50 junge Kreative aus der ganzen Welt ein einjähriges Stipendium, um außergewöhnliche Ideen zu realisieren. Niemand ist älter als 25 Jahre. Das Co-Creation-Center ist in einem alten Gutshaus beheimatet, das der japanische Architekt Tadao Ando erweitert hat. In verschiedenen Laboren für Video, Musik, Design, Grafik und Interaktivität treiben die Stipendiaten ihre Projekte voran. Fabrica-CEO Dan Hill geht es darum, neue Räume für Möglichkeiten zu schaffen: "Wir suchen aktiv das Neue, das Unbekannte, das Entstehende." 

Die Stipendiaten leben in WGs zusammen und so sprudeln Ideen und Kreativität rund um die Uhr, 24/7. In der Fabrica wird regelmäßig das preisgekrönte Magazin COLORS produziert, teils mit Absolventen. Denn das Netzwerk von 600 Alumni aus der ganzen Welt wächst und bringt Früchte. Auch bei COLORS sieht man die Leser nicht als Konsumenten, sondern als Mitgestalter. Zur Jahrtausendwende etwa wurde ein leeres Magazin nur mit dem Logo auf der Titelseite verschickt, mit der Aufforderung, selbst aktiv zu werden. Hunderte Meisterwerke aus der ganzen Welt kamen zurück. Sie stehen heute in der ovalen Bibliothek, dem Herzstück des Kreativlabors. Die jungen Wilden entwickeln aber auch Werbekampagnen für die UNO und für NGOs, sowie Projekte mit Kultureinrichtungen wie der Biennale Venedig, der Biennale Seoul, führenden Museen und Galerien in London oder dem Centre Pompidou in Paris. Und Fabrica setzt auch im Internet starke Impulse. Etwa mit dem Partner Telecom Italia. Außerdem forscht das Kreativlabor an der Zukunft der Wirtschaft, an neuen Shop- und Handelskonzepten. Und renommierte Partner wie das MIT in Bosten oder die Ars Electronica in Linz inspirieren in gemeinsamen Projekten zu durchschlagenden Innovationen. "So haben wir eine 20-jährige Erfahrung mit Themen wie ethischer Konsum, Nachhaltigkeit, sozialer Wandel. Unternehmen können sich vor diesen Themen nicht mehr drücken", ist Dan Hill überzeugt. Ihm ist bewusst, dass hier Pionierarbeit geleistet wird: "Co-Creation-Centers werden dafür berühmt sein, dass sie außergewöhnliche Plätze für außergewöhnliche Resultate sind. Ja, sie sind ein fundamentaler Beitrag dafür, das 21. Jahrhundert zu gestalten."

Der Mensch im Zentrum der Wertschöpfung
Prof. Venkat Ramaswamy hätte seine Freude an Fabrica. Denn der Professor für Marketing und Electronic Business an der Universität von Michigan ist es, der als erster im Jahr 2000 den Begriff Co-Creation in der Harvard Business Review prägte, gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Businss-Guru C.K. Prahalad. Ich treffe Ramaswamy auf einer Konferenz zu seinem Thema in Dublin. Sie wird von der EU veranstaltet, die mit Co-Creation und Open Innovation die europäische Wirtschaft retten will, die gegen die asiatische Konkurrenz immer mehr zurückfällt. Ramaswamy geht es nicht nur um das "co-creative Unternehmen", sondern um eine ebensolche Wirtschaft und Gesellschaft. Er spricht mittlerweile von einem neuen Paradigma, also einer neuen Weltanschauung, die gerade in unsere Zeit kommt. "Es ist wie damals die Entdeckung, dass die Sonne nicht um die Erde kreist, sondern umgekehrt. Lange Zeit kreisten die Menschen ja um Unternehmen und Institutionen. Doch dies gilt nicht länger. Wir sehen heute ganz klar, dass es die Individuen sind, die im Zentrum der Wertschöpfung stehen". So wollen immer mehr Menschen nicht länger für die Wirtschaft leben und da sein. Sie wollen, dass die Wirtschaft für sie da ist. Seine Theorien entwickelt Ramaswamy nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern im aktiven Dialog mit Firmen, die zu Pionieren von Co-Creation wurden. Etwa Lego, ABB, Infosys, Orange oder Ideo. Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung empfiehlt er den Firmen: "Was immer Du heute und morgen erzeugst: Mach es zusammen mit den Menschen, nicht für die Menschen".

Viele Firmen haben immer noch eine Vorstellung von Wirtschaft, die dem Haifisch-Becken ähnelt: Fressen oder gefressen werden. Die Konsumenten: willkommene Beute. Mit ihnen nun in einen ernst gemeinten Dialog zu treten ist für viele Neuland. Es funktioniert nicht, sich als Hai mit einer Delphin-Maske zu tarnen. Ein radikales Umdenken ist erforderlich, genauso wie Mut und eine klare Entscheidung der Unternehmensführung.

Provokation für Veränderung
Unilever in London hat sich auf die Reise gemacht, Co-Creation zu implementieren. Doch ein Out-of-the-Box-Denken machte es auch nötig, Out-of-the-Headquarter zu arbeiten. Deshalb baute der Konzern im Londoner Szene-Viertel Clerkenwell ein eigenes Co-Creation-Center auf. In diesem Labor entwickelt Unilever gemeinsam mit Kunden, Experten, Kreativen und Wissenschaftlern neue Projekte. Alles, was diesen Prozess unterstützen kann, steht zur Verfügung: Ein "Sensory-Lab", in dem Prototypen schnell entwickelt und mit allen Sinnen getestet werden. Modernste Kommunikations-Technologie. Und eine Cafeteria als Umschlagplatz von Ideen, die die jeweiligen Themen kulinarisch reflektiert. "Hier beginnt die Zukunft", sagt Dave Lewis, President Personal Care Unilever, der dieses Center initiierte. "Menschen, die die Welt verändern wollen, entwickeln hier unwiderstehliche Ideen und Breakthrough-Innovations. Hier sprühen die Funken und jeder der hier arbeitet, will ein Game-Changer von morgen werden. Dieses Center transformiert die Art, wie wir arbeiten und provoziert Veränderung."

In der Konzeption dieses Projektes holte sich Unilever Unterstützung in Person von Prof. Christine Woesler de Panafieu. Die Grand Dame der französischen Trendforschung beschäftigt sich sei zwei Jahrzehnten mit diesem Thema (siehe Interview). Ich treffe sie in Paris, wo sie nach Jahren als Soziologie-Professorin und Pionierin zu Frauen- und Umwelt-Themen ihr eigenes Unternehmen "Cosight" aufgebaut hat. In Interviews mit Cutting-Edgern, also mit der weltweit verteilten Avantgarde, erforscht sie die sich wandelnden Wertvorstellungen der Menschen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass wir es weltweit verstärkt mit mündigen Konsumenten zu tun haben, die mitgestalten wollen. "Dies stellt Firmen vor die Aufgabe, dass sie sich neu erfinden und out of the box denken müssen. Mit Co-Creation gelingt dies am besten."

Etwas bewusst zu erschaffen - das ist es doch, was uns als menschliche Spezies einzigartig macht. Kreation liegt uns in den Genen. Mit dem Wunder der Co-Creation hat unser eigenes Leben begonnen. Seither spielen Milliarden Zellen in unserem Körper jede Sekunde auf perfekte Art zusammen. Wie nach einem geheimnisvollen Konstruktionsplan. Diese Erfolgsprinzipien der Natur zu erforschen und sie in Unternehmen und Gesellschaft anzuwenden, ist das Gebot der Stunde.

1 Quelle: www1.wdr.de/fernsehen/wissen/quarks/sendungen/spermien102.html
 
 
Christoph Santner
"Zukunft ist, was wir draus machen", ist der Autor, Redner und Innovations-Berater überzeugt. Für forum schreibt er regelmäßig über Zukunftsfragen. Seit 25 Jahren ist er auf dieses Thema spezialisiert.
c.santner@nachhaltigwirtschaften.net

Technik | Innovation, 01.04.2014
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2014 - Voll transparent, voll engagiert erschienen.
     
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