WeQ Learning
Bildung für das 21. Jahrhundert oder die Neuerfindung von Lernen und Arbeiten
Bildung war schon immer der entscheidende Schlüssel zu Wohlstand und Zukunft. Was Bildung bewirken kann, wissen wir aus unserer eigenen Geschichte durch Weichenstellungen wie jene von Humboldt und Bismarck bis zur dualen Ausbildung. Umso erstaunlicher, wie lahm wir in Deutschland mit der Frage umgehen, wie sich Lernen und Arbeiten im 21. Jahrhundert verändern werden. Thomas Sattelberger, einer der erfahrensten und kreativsten Personalchefs unseres Landes, spricht in Bezug auf unsere heutigen Lernverständnisse und Lernverhältnisse von einem „Failed State".
Niemals zuvor haben sich genau diese beiden Schlüsselfaktoren menschlichen Lebens, Lernen und Arbeiten, radikaler verändert als jetzt. Und sie werden dies noch sehr viel schneller tun, mit exponentieller Geschwindigkeit. Nicht nur Kalifornien und Israel, auch Singapur, China, Finnland und andere überholen uns mit höchst kreativen Konzepten. Singapur zum Beispiel hatte vor 60 Jahren keine Hochschule und kein Gymnasium. Doch mit der bisher größten Bildungsoffensive mutierte das damals bettelarme Land zum Weltmeister bei Hochschulabschlüssen und Patentanmeldungen bei einer Steigerung des Durchschnittseinkommens um den Faktor 100. China stellt bis 2018 komplett auf digitale Lernmaterialien um, Finnland bis 2020 von Fächer- und Frontalunterricht zu integrierter Themen- und Projektarbeit in Teams. Und Kalifornien und Israel sind die neuen Weltzentren für disruptive Innovationen und Unternehmen. Wenn wir anschlussfähig an die Zukunft bleiben wollen, müssen wir uns sehr schnell, ergebnisoffen und in hoher Konzentration diesen vier klassischen W-Fragen zuwenden:
WAS lernen wir im 21. Jahrhundert?
WIE läuft Lernen & Arbeiten im 21. Jahrhundert ab?
WO finden Lernen & Arbeiten des 21. Jahrhunderts statt?
WER lernt und wer lehrt im 21. Jahrhundert?
Von der Wissens- zur Potenzialentfaltungsgesellschaft
Soviel sei gleich vorweggenommen: Wir stehen vor nichts Geringerem als vor einem nächsten großen Übergang von der Wissensgesellschaft zu einer Potenzialentfaltungsgesellschaft. Die Antworten auf die Fragen, was, wie und wo wir im 21. Jahrhundert lernen und arbeiten werden und wer Lehrender, wer Lernender sein wird, werden sich fundamental verändern. Die vier W-Fragen helfen uns, die Handlungsfelder und Schritte auf dem Weg dorthin zu klären und zu verstehen.
WAS lernen wir im 21. Jahrhundert?
Die erste Stufe, was Lernen im digitalen 21. Jahrhundert selbstredend leisten muss, ist ein selbstsicherer und kreativer Umgang mit der digitalen Welt. Der erste Schritt dazu ist ein selbstverständlicher Umgang mit digitalem Lernen, denn richtig eingesetztes digitales Lernen bedeutet nichts Geringeres als die Verwirklichung einer radikal neuen Qualität des Menschenrechts auf Bildung: dem „Recht auf weltbeste Bildung für alle" – zu jeder Zeit, in Tausenden von individuell angepassten Lernweisen und bis zum vollständigen Verstehen aller Lerninhalte, die man gerade lernt. Das klingt sicher in nicht wenigen Ohren überzogen. Doch Salman Khan, der Pionier des Online-Learnings, zeigte mit seiner Lernplattform khanacademy.org, wie durch kluges digitales Lernen jeder zum Souverän lebenslanger Wissensaneignung werden kann. In jeweils nur zehnminütigen Lernvideos vermittelt er dort in mehr als 4.000 Lerneinheiten aus allen wichtigen Lerngebieten so viel Wissen, wie durchschnittlich in einer 45-minütigen Unterrichtsstunde vermittelt wird. Durch die Möglichkeit beliebiger Wiederholung solcher Lektionen und beliebig intensiver Nutzung der ebenfalls digital angebotenen Übungswelten ist vollständiges Verstehen für jedes einzelne Lernthema tatsächlich kein Traum mehr. Analoge Angebote zur Khan Academy für die schulische Ebene gibt es selbstverständlich inzwischen ebenfalls – und täglich werden sie mehr und besser und behandeln mittlerweile auch die universitäre Ebene, einschließlich aller postgraduierten und beruflichen Weiterbildung.
Noch wichtiger als die radikal neue Lernintensität und Lerntiefe bei der Wissensaneignung ist jedoch die Frage, was wir mit der frei gewordenen Zeit von 35 Minuten pro Unterrichtseinheit anfangen können und sollten. Die Antwort ist: WeQualities, der Erwerb von kollektiver Intelligenz und kollaborativen Lebensschlüsselkompetenzen, konkret: Kompetenzen, die sich auf die Umsetzung von Wissen beziehen, soziale Kompetenzen, unternehmerische Kompetenzen, Verantwortungskompetenzen, Kommunikationskompetenzen, Vernetzungskompetenzen und vieles mehr. Dies sind die wahren Lernbeschleuniger und -vertiefer, Resilienzverstärker, Selbständigkeits- und Flexibilitätserhöher, kurz: die umfassenden Potenzialentfalter. Mit diesen Kompetenzen erlangen wir zusätzlich zur Souveränität digitaler und kreativer Selbstsicherheit auch die Souveränität für alle Transformationsprozesse und Kollaborationsanforderungen, die noch auf uns zukommen werden. Dazu vier kurze Praxisbeispiele für diese neue Welt des Potenzialentfaltungslernens.
Die SRH Hochschule Heidelberg entwickelte den dualen Bildungsansatz der Verschränkung von praktischem und theoretischem Wissen mit ihrem CORE-Prinzip auf der Hochschulebene weiter. Die Studenten können hierbei in den Organisationen und Unternehmen ihr erworbenes Wissen sofort realpraktisch anwenden. Das Ergebnis: eine entscheidend verbesserte Anwendungskompetenz, Praxisfitness und nicht zuletzt auch deutlich tiefere, leichtere und nachhaltigere Wissensaufnahme. Ab sofort wird dieser Ansatz auf zehn weitere Hochschulen in Deutschland übertragen.
Das revolutionäre Bildungssystem von Fundaec in Kolumbien für die dortigen ländlichen Regionen lässt alles Wissen auf allen Ebenen immer sofort in Praxisprojekten im Ort umsetzen. Sie vermitteln Kommunikationskompetenzen in einer Qualität, dass man sogar meinen könnte, jeder hätte teure Seminare für die besten Spitzenmanager besucht. Sie erfanden für die Vermittlung von Mathematik einen neuen Ansatz, mit dem bei 30.000 Absolventen nicht einer an Mathematik scheiterte! Und sehr viel mehr. Diesem Bildungssystem für das – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – „zurückgebliebene" Landvolk attestierte selbst das Bildungsministerium in Bogota, dass es den staatlichen Einrichtungen haushoch überlegen sei. Aus Zurückgebliebenen wurden die besten Hochschulabsolventen Lateinamerikas und serienweise Erfinder, Unternehmer und Bürgermeister.
Die Townshend School in Tschechien, die weder Wirtschafts- noch Eliteschule ist, bot irgendwann als frei wählbares Fach Unternehmensgründung an. Das Ergebnis: Viele der dabei gegründeten Schülerunternehmen sind heute Weltmarktführer. Analoge Erfahrungen mit der Vermittlung von praktischen unternehmerischen Kompetenzen machten auch viele andere Schulen und Hochschulen.
Die Evangelische Schule Berlin-Mitte bietet seit Jahren die Fächer Verantwortung und Herausforderung an. Die Schüler stellen sich eine selbstgewählte Herausforderung, meist in Teams, bereiten sich darauf vor und meistern sie in einem zwei- bis vierwöchigen Zeitraum, in dem kein normaler Unterricht stattfindet. Unisono sagen sie, dass sie nie so viel und intensiv für ihr Leben und dessen Meisterung gelernt haben. Die Schüler dieser Schule sind derart motiviert, dass sie sich entschlossen, die erste Lehrerfortbildung durch Schüler anzubieten – mit sensationellem Erfolg: Mehr als 10.000 Lehrerinnen und Lehrer besuchten deren Fortbildungsangebot und meinten danach, noch nie so viel über gelingende Schülermotivation gelernt zu haben.
Eine derartig revolutionäre Neuerfindung von Lernen ist längst kein Einzelfall mehr. Beim EduAction Bildungsgipfel, der erstmals 2016 in Mannheim und Heidelberg als Leitkonferenz für Bildungsinnovationen stattfand, wurden über 100 solcher Projekte allein aus Deutschland präsentiert. Weltweit können wir bereits auf tausende höchst erstaunliche Erfahrungswerte dieser Art zurückgreifen, was beim zweiten EduAction Bildungsgipfel am 25. bis 26. Oktober 2018 in Mannheim mit zahlreichen interaktiven Formaten der Fall sein wird unter dem Motto „WeQ – More than IQ. Zukunftskompetenzen gemeinsam gestalten".
WIE läuft Lernen & Arbeiten im 21. Jahrhundert ab?
Die Kurzantwort: im WeQ Modus! Wenn wir uns fragen, wo derzeit die größte Innovationspower am Werke ist, so kommt heute nahezu allen das Silicon Valley in den Sinn. Wenn wir uns fragen, welcher Lern- und Arbeitsmodus dort vorherrscht, so stößt man unwillkürlich auf Design Thinking (forum berichtete dazu mehrfach – siehe dazu diverse Beiträge auf www.forum-csr.net). Gemeint ist ein Prozess kollektiver Innovationsentwicklung in heterogenen Teams und allgemein offene digitale wie analoge Kollaborationsprozesse auf gleicher Augenhöhe mit dem gesamten Weltgehirn, der gesamten Weltkreativität und der gesamten Weltgestaltungskraft.
Dieser WeQ Modus ist so wirkmächtig, dass der Daimler-Chef Dieter Zetsche vor einiger Zeit verkündete, innerhalb nur eines Jahres 20 Prozent seiner Mitarbeiter in diesen neuen Arbeitsmodus transformieren zu wollen, und zwar dauerhaft. Immer mehr große und auch immer mehr mittelständische Unternehmen folgen diesem tiefgreifenden, neuen Transformationsweg in den WeQ Modus und sehen darin die einzige Möglichkeit, sich auf die neuen Herausforderungen und Chancen im 21. Jahrhundert einstellen zu können.
Die Hopp Foundation fördert in Zusammenarbeit mit dem Berliner Innoki-Team in Deutschland die Einführung und Anwendung von Design Thinking und WeQ Modus in Schulen. In Kürze steht dafür auch ein erstes Lehrerhandbuch zur Verfügung. Das Education Innovation Lab, die Sozialunternehmen von Robert Greve und immer mehr bildungsinnovative Einrichtungen in Deutschland revolutionieren Bildung in Richtung WeQ Modus.
WO findet Lernen und Arbeiten des 21. Jahrhunderts statt?
Auch hier die Kurzantwort vorweg: in WeQ Spaces! Damit sind einerseits all die vielen digitalen Lern- und Arbeitsräume gemeint, die für eine neue Qualität kollaborativen Arbeitens und Lernens konzipiert und umgesetzt sind. Gleichzeitig bedarf es aber auch der Entwicklung neuer kollaborativer Räume und kollaborativer Möbel und damit physischer WeQ Spaces – in Schulen und Universitäten, in Gründerzentren, in allen Unternehmen, in Verwaltungseinrichtungen und allen Arten von öffentlichen Einrichtungen.
Auch hier spielte Design Thinking eine Pionierrolle. Mit und für die HPI School of Design Thinking wurden völlig neue Möbel entwickelt für die kollektive Innovationsarbeit in Teams mit jeweils vier bis acht heterogen zusammengestellten Personen. Inzwischen arbeitet auch beispielsweise der klassische Schulmöbelhersteller Hohenloher an kollaborativen Schulmöbeln – für Lehrerzimmer und Klassenräume, die man vielleicht künftig besser WeQ Lern- und Arbeitsräume nennen sollte – und innovative Büromöbelhersteller arbeiten an völlig neuen kollaborativen Raum- und Arbeitsgestaltungen in Unternehmen und sonstigen Organisationen. Zur Welt der neuen WeQ Spaces zählen auch unterschiedliche Konzepte jenseits von Design-Thinking-Labs, wie beispielsweise Maker-Garagen, Social Impact Labs, Impact Hubs, Zukunftslabs, 3-D-Labs und vieles mehr.
WER lernt und wer lehrt im 21. Jahrhundert?
Auch hier wieder die Kurzantwort: We – All – Together! Alle werden zu permanent Dazulernenden. Die traditionellen Grenzen zwischen Lehrenden und Lernenden werden zunehmend verschwimmen. Lehrende werden zu Lernbegleitern und Lerncoaches – womit der Lehrberuf wesentlich attraktiver wird, als er heute ist. Schüler und Studenten werden zu Teamlernenden, zu Peer-to-Peer-Lernenden und -Lehrenden, zu Praktikern und Projektteam-Akteuren als untrennbarem Teil ihrer Lernprozesse. Arbeitende werden zu Working-Learners-and-Teachers und auch jene, die sich heute noch irgendwann in einen Ruhestand verabschieden, werden künftig sehr viel mehr Zeit in neuen Aufgaben, sinnstiftenden, neuen Lernprozessen sowie der Weitergabe ihrer Erfahrungen einsetzen wollen.
Doch Bildung kann nicht das notwendige Maß an Transformation erfahren, wenn wir Bildung und Reformbedarf weiter in den heutigen Silokategorien betrachten. Wir brauchen eine systemische Grundlagenforschung über das „Lernen und Arbeiten im 21. Jahrhundert" und eine Kultur für Bildungsinnovationen, die für grundlegend disruptive Veränderungen von Lernen und Arbeiten offen ist. Diese Kultur sollte getragen sein vom Leitbild einer Potenzialentfaltungsgesellschaft, in der alle ihre Potenziale um Quantensprünge weiterentwickeln können.
Peter Spiegel ist Leiter des WeQ Institute und Initiator und Kurator des EduAction Bildungsgipfels. Er ist Autor und Herausgeber von 30 Publikationen, darunter „EduAction – Wir machen Schule" mit der Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld sowie „Schmetterlingseffekte – Meine verrückte Bildungsbiografie". Er ist ferner Beiratsmitglied der Heraeus Bildungsstiftung sowie der Bildungskommission beim Senat der Wirtschaft Deutschland.
Gesellschaft | Bildung, 30.08.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/03 2018 - Wasser - Grundlage des Lebens | Bildung erschienen.
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