Plädoyer für eine Währungsreform in der Bildung
Wie sollte Bildung sich im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung verändern?
Die Bildung muss digitaler werden – so lautet derzeit das einhellige Credo. Nicht mehr Wissensvermittlung sei das primäre Ziel, sondern Wissensnutzung. Gleichzeitig wird der Ruf nach einer Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Bildung immer lauter. Beides passt nicht zusammen. Ein Beitrag zur Ausräumung eines Missverständnisses.
Überall geht es derzeit um die Frage, welchen Einfluss die Digitalisierung hat. Beim Thema Bildung wird die Diskussion besonders hitzig geführt. Alle meinen mitreden zu können – immerhin hat mehr oder weniger jeder einmal eine Schule besucht. Der gesellschaftliche Wandel jedoch, den wir aktuell erleben, macht diesen kollektiven Erfahrungsschatz auf einmal obsolet. Die Auswirkungen durch die Globalisierung und Digitalisierung kennt schließlich langfristig noch niemand. Doch was die Diskussion um die Bildung besonders erhitzt, ist die Tatsache, dass sie von zwei Tendenzen dominiert wird, die widersprüchlicher kaum sein könnten.
Die Bildung muss messbar und vergleichbar sein, sagen die einen. Eine Standardisierung der Bildung mit einem einheitlichen Abitur wäre die Folge. An den Hochschulen gibt es sie auch schon, eine international vergleichbare Einheit zur Messbarkeit von Arbeitspensum und Leistung, die sogenannten ECTS-Punkte.
Auf der anderen Seite rüttelt der uneingeschränkte Zugang zu digitalisierten Informationen und Wissen am Fundament solcher althergebrachten Bildungsziele. Und so halten Kritiker dagegen: Anstelle standardisierter Wissensvermittlung ist es die erfolgreiche Nutzung vorhandener Informationsquellen, auf die es heutzutage ankommt. Fake News hinterfragen, Zusammenhänge verstehen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in teilweise virtuellen Teams und Netzwerken sind die Schlüsselkompetenzen im digitalen Zeitalter.
„Ich höre und vergesse. Ich sehe und behalte. Ich handle und verstehe." Konfuzius
Die Gegensätze könnten kaum größer sein. Echtzeitmessungen einheitlicher Erfolgsmaße stehen im fundamentalen Widerspruch zu individuellen und fachübergreifenden Kompetenzen, die nur schwer zu quantifizieren sind. Auf der Suche nach Lösungen möchte dieser Beitrag ein Missverständnis ausräumen und aufzeigen, dass die Instrumente erfolgreicher Bildung, die wir im digitalen Zeitalter brauchen, weder neu noch strittig sind.
Das Missverständnis: Digitalisierung der Lehre? Bildung für eine digitale Welt
Zweifelsohne bieten digitale Medien vielfältige Möglichkeiten zur Individualisierung und auch Modernisierung der Lehre. E-Learning kombiniert mit Flipped-Classroom–Konzepten, Lehrvideos und Lern-Apps, die mit Elementen von Computerspielen angereichert sind, sind nur einige Beispiele einer digitalisierten Lehre. Wird die Bildung in dieser Form vermittelt, hinterlassen Lernende permanent Spuren ihrer Lernprozesse, Spuren die auf Knopfdruck kontinuierlich ausgewertet und verglichen werden können. Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur die Individualisierung von Lernprozessen in bisher ungeahntem Ausmaß, sondern auch die Messbarkeit.
Dennoch greifen diese Ansätze isoliert betrachtet noch viel zu kurz. Denn nach wie vor steht hierbei die reine Wissensvermittlung im Mittelpunkt und die Erfolgsmessung basiert auf einer vorab definierten Ziellinie. Die Befürchtung ist berechtigt, dass mit dem Fokus auf eine solche Technisierung von eigentlich tradierten Methoden die wirklich notwendigen Veränderungen für erfolgreiche Bildungsarbeit im digitalen Zeitalter systematisch verhindert werden. Bildung für eine digitale Welt bedeutet mehr als angeleitete Trainingseinheiten zur Wissensabfrage an Smartphones und Tablets. Wenn wir mithalten wollen mit dem, was die IT längst kann, müssen wir vor allem eines: vernetzt denken lernen. Und dies kann nur gelingen, wenn dem Bildungserwerb ein neuer Stellenwert zuteil wird, auch wenn die Erfolgsmessung und -beurteilung dann ungleich schwieriger wird.
Die Debatte um Kompetenzen – in Unternehmen oft auch soft Skills genannt – ist nicht neu. Und sie ist nicht einmal sonderlich kontrovers. Denn eine Meinung eint alle: Der isoliert fachliche Wissenserwerb verliert an Bedeutung. Worauf es heutzutage vielmehr ankommt, ist Teamarbeit über Fachgrenzen hinweg, ist die gemeinsame Suche nach Lösungen.
Die entscheidende Frage ist jetzt, wie die Lernumgebung gestaltet sein muss, um diesen notwendigen Kompetenzerwerb zu ermöglichen.
Projektlernen muss zur zentralen Lernform werden
Die heute noch dominierenden Strukturen in den Bildungseinrichtungen müssen maßgeblich verändert werden. Gesonderte Schulfächer, Module und isoliert konzipierte Vorlesungen verhindern geradezu vernetztes Denken. Alte Weisheiten jedoch bringen uns in dieser modernden Zeit weiter. Ob mit den Worten von Konfuzius, Aristoteles oder Goethe, die Kernbotschaft lautet immer: Vom Reden ins Handeln kommen.
Übertragen auf die Bildung im digitalen Zeitalter bedeutet dies: Projektlernen muss zur zentralen Lernform in Schulen und Hochschulen werden.
„Was man lernen muss, um es zu tun, das lernt man, indem man es tut." Aristoteles
Im Projektlernen arbeiten die Lernenden an konkreten Fragestellungen. Der Schulalltag, Forschungsfragen und das soziale und gesellschaftliche Umfeld bieten von sich aus eine Fülle von Herausforderungen und Fragen. Wenn sich die Lernenden nun mit den Fragen identifizieren, wird die notwendige Motivation entzündet, selbst nach Antworten zu suchen. Genau dann und nur dann kommen die Lernenden vom passiven Hören ins aktive Tun. Statt vorgefertigte und didaktisch aufbereitete Lehrinhalte wiederzugeben, geht es um das selbstständige Erarbeiten von Lösungen.
Betont sei hier ausdrücklich, dass dies den Wissenserwerb keinesfalls vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Auf der Suche nach Antworten eignet sich der Lernende durch eine aktive Fragehaltung das notwendige Fachwissen durchaus an. Das Paradoxe ist, dass wir durch die Digitalisierung, konkret durch das Internet, längst in dieser Form vorgehen, wenn es darum geht, Aufgaben, Fragen und Projekte zu bearbeiten, sei es beruflich oder privat.
Entscheidend für erfolgreiches Projektlernen ist die verantwortungsvolle An- und Begleitung der Lernenden. Selbstständig bedeutet an dieser Stelle nicht allein. Der Lehrende ist in diesem Prozess ein Begleiter, Mutmacher und Berater anstatt reiner Stoffvermittler. Doch diese veränderte Rolle des Lehrenden wirkt sich maßgeblich auch auf das Zeitbudget und den Arbeitsaufwand aus. So ist zum Beispiel eine Anleitung verschiedener Projektteams, die sich jeweils mit Teilaspekten einer Forschungsfrage befassen und dabei in unterschiedlichem Lerntempo vorgehen, nicht vergleichbar mit einer standardisierten Unterrichtseinheit oder Vorlesungsveranstaltung, die sich einmal konzipiert jahrelang wiederholen lässt. Für Projektlernen müssen Messzahlen wie Unterrichtsstunden und Betreuungsschlüssel neu entwickelt sowie die alten Bewertungsmaßstäbe hinterfragt werden.
Eine neue Währung für Projektlernen erforderlich
Ein Blick auf den Alltag in vielen Schulen und Hochschulen zeigt: Projektlernen findet vielerorts und in zahlreichen Facetten bereits statt. Meine Söhne haben zum Beispiel schon ein Beachvolleyballfeld für ihre Schule gebaut oder begeistert an Spendenläufen für einen guten Zweck teilgenommen. Bei den Spendenläufen etwa, bei denen sie selber Sponsoren suchen mussten, lernten sie gesellschaftliche und soziale Verantwortung zu übernehmen. Sie erfuhren etwas über die Spendenprojekte und damit etwas über die Zustände in anderen Ländern. Und ganz allgemein erlebten sie, wie man gemeinsam etwas Großes schaffen kann.
Nicht selten hört man allerdings den Vorwurf – insbesondere von Eltern, dass dabei gar nichts gelernt wird. Auch die Schüler selbst bezeichnen solche Projekte oftmals als nicht richtige Schule, denn die Projektwoche findet erst nach der Notenabgabe fürs Zeugnis statt. Richtig Unterricht ist demnach nur, wenn man auf den harten Stühlen sitzt, der Lehrkraft zuhören muss oder für seine Klassenarbeiten büffelt. Und wir dürfen es der jungen Generation – egal ob an Schule oder Hochschule – nicht verdenken, denn das herrschende Bewertungssystem ist noch immer genau so konzipiert.
Noch überwiegen einheitliche Klausuren und Einzeltests als Prüfungsform. Erfolgreich ist hier, wer unter Zeitdruck das Erlernte abrufen kann. Kooperation und Teamarbeit bedeuten bei dieser Form der Problemlösung sogar Betrug. In Stresssituationen kann unser Gehirn jedoch nicht kreativ sein. Innovative Ergebnisse sind bei vorgegebener Musterlösung auch gar nicht erwünscht. Selbst bei Gruppenarbeiten schreibt die Kultusministerkonferenz vor, jeden Einzelbeitrag namentlich zu kennzeichnen, um eine individuelle Leistungsbeurteilung zu gewährleisten. Teamarbeit, gegenseitige Unterstützung und Teilung von Wissen werden auf diese Weise nicht gefördert.
„Es ist nicht genug, zu wissen, man muss es auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss es auch tun."J. W. von Goethe
Mir geht es ausdrücklich nicht um die Abschaffung von Noten und Bewertungen. Wir alle wollen und brauchen Feedback zu den Dingen, die wir leisten. Das ist menschlich und legitim. Zwar sind solche Bewertungen natürlich nicht immer fair und schon gar nicht objektiv. Das waren sie im Übrigen noch nie und werden sie auch in digitalisierter Form nie sein. Im Sinne einer erfolgreichen Bildung für eine digitale Welt gilt es aber zu hinterfragen, was und wie bewertet wird.
Von einem Schweizer Unternehmer erfuhr ich schon vor Jahren, dass für ihn bei der Bewerberauswahl genau eine einzige Zahl aus dem Schulzeugnis von Relevanz war. Nein, es war nicht die Note im Fach Mathematik, wie viele immer vermuten oder die Note im Programmieren, wie es vielleicht in zehn Jahren heißen wird. Es war die Anzahl unentschuldigter Fehltage! Er interpretierte diese negativ als Indikator für verantwortungsloses Verhalten und für mangelnden Respekt gegenüber dem System Schule. Jedoch könnten die Fehltage auch ein positiver Indikator dafür sein, dass ein Schüler bereit war, sich außerschulisch zu engagieren oder dafür, dass er außerhalb der Schule wertvolle soziale Erfahrungen gemacht hat und dabei Social Skills wie Vertrauen und Respekt erworben hat.
Vielleicht mag dieses Beispiel ein sehr radikaler und vereinfachter Ansatz sein. Aber es zeigt, dass wir die bestehenden Bewertungsmethoden in unserem Bildungssystem hinterfragen und neu gewichten müssen.
Projektlernen als zentrales Instrument für Kompetenzerwerb
Die Instrumente und Methoden für Kompetenzerwerb sind nicht neu. Vielerorts werden sie längst praktiziert in Form von Projekten und Engagements und das nicht nur auf alternativen Schulen. Der Wirkungsgrad von solchem Projektlernen kann noch weiter erhöht werden, wenn wir die Digitalisierung richtig nutzen. Die Voraussetzung jedoch ist, dass wir diese Entwicklung nicht auf die reine Technisierung veralteter Lehrformate reduzieren und nur eine Optimierung standardisierter Vergleichsmessungen anstreben. Für die Fragen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gibt es keine Musterlösungen, die automatisiert abgeprüft werden können. Die Bildungsziele und Bewertungsmaßstäbe müssen dahingehend verändert werden, dass das Fragen stellen, die gemeinsame Lösungssuche und das konkrete Handeln belohnt werden – auch wenn die Ergebnisse dann sehr individuell und nur schwer vergleichbar sind. Lassen Sie uns in eine offene und mutige Diskussion eintreten, um einer solchen Kompetenzorientierung in unseren Schulen, Hochschulen und Unternehmen den Stellenwert zuteil werden zu lassen, der ihr in einer globalen und digitalen Welt dringend gebührt.
Susanne Hensel-Börner ist die Initiatorin und treibende Kraft hinter dem neuen Master-Studiengang „Digitale Transformation und Nachhaltigkeit". An der Hamburg School of Business Administration (HSBA) ist sie seit 2009 Professorin für Betriebswirtschaftslehre.
Lesen Sie dazu auch das forum-Interview mit Susanne Hensel-Börner, das in forum 01/2018 veröffentlicht worden ist.
Gesellschaft | Bildung, 22.08.2018
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