Motivation steht an erster Stelle!

Entsteht in Chile gerade ein neues Schulsystem?

forum befragte Veronika Fritz, die seit einem Jahr mit ihrer Familie und der sechsjährigen Tochter in Chile lebt, nach ihren Erfahrungen mit der „Schule der Begegnung". Sie berichtet aus eigener Erfahrung, denn ihre Tochter besucht diese erst ein-einhalb Jahre alte Experimentierschule.

© privat
Warum haben Sie für Ihre Tochter diese Schule gewählt und nicht in die staatliche?
Wir haben uns über alle Schulen in Chile informiert. Die staatlichen Schulen sind sehr ärmlich, haben wenig Unterrichtsmaterial und Klassenstärken von 35 bis 45 Kindern. Die Oxford-Schule hier ist sicher nicht schlecht, kostet aber so viel wie der Mindestlohn, circa 400 Euro monatlich.

Wie sind die Deutschen Schulen in Chile im Vergleich zu den Grundschulen in Deutschland?
Die Deutsche Schule ist, was Klassenstärke, Unterrichtsinhalte und bauliche Gegebenheiten angeht, mit einer Schule in Deutschland vergleichbar. Es wird hauptsächlich auf Spanisch unterrichtet und täglich eine Stunde Deutsch gelernt. Die Kinder tragen eine Schuluniform, wie in Chile an vielen Schulen üblich. Der große Unterschied ist, dass sich die Deutsche Schule in Chile nur reiche Familien leisten können. Ein normaler Chilene kann davon nur träumen. Durch die Uniform erkennt man auf der Straße, wer auf welche Schule geht. Die Deutsche Schule hat mit der chilenischen Realität nicht viel zu tun. Die Kinder sind eher unter sich, und das wird von den Familien auch gefördert. Wer später studieren möchte, hat sehr gute Karten. Es geht auch darum, schon früh Kontakte zu knüpfen. Der Klassenunterschied in Chile wird hier sehr deutlich. Es gibt keine Chancengleichheit für die verschiedenen Schichten. Das finde ich auf unserer Schule sehr positiv. Wie auch in Waldorfschulen, wird das Schulgeld dem Einkommen der Eltern angepasst. So vermischen sich die Kindern von reicheren und ärmeren Familien. Meine Tochter ist die einzige Deutsche. Ich finde, wenn man in einem anderen Land lebt, sollte man sich auch für die Menschen und die Kultur vor Ort öffnen.

Wie entstand diese Schule?
© privatEs ist eine Experimentschule, in der sich Lehrer zusammengetan haben und die erste Schule dieser Art gründeten. Die Leitung besteht aus einer Gruppe von Pädagogen, die sich an der hiesigen Uni kennenlernten und alle zeitgleich kleine Kinder hatten, die sie nicht in die bestehenden Schulsysteme schicken wollten. Sie haben jahrelang geplant und mit dieser Schule ihre Träume verwirklicht. Ihre Kinder gehen jetzt ausschließlich in diese Schule. Durch diese Tatsache, dass sie ihre eigenen Kinder dort schulen, hatte ich gleich viel Vertrauen.

Worin liegt der wesentliche Unterschied zu den anderen Schulen?
Die Art des Lernens, die hier geschieht, kennen wir vom Erwachsenenalter. Alles was uns interessiert, nehmen wir viel schneller und müheloser auf. Das Wesentliche beim neuen System ist: Man behandelt nur Themen, die interessieren. Zum Schulbeginn bekamen die Kinder den Auftrag, mit ihren Eltern übers Wochenende zu überlegen, worüber sie gerne etwas lernen möchten. Dadurch werden Themen von den Familien in die Schule getragen. Meist interessieren sich die Kinder für Tiere. Die folgenden drei Wochen wurden Themen herausgearbeitet, welche für die ganze Gruppe am besten passten. Die Kinder lernen dabei nachzudenken, Fragen zu formulieren und demokratisch abzustimmen. Das Schreiben lernen sie, indem sie die von der Lehrerin an die Tafel geschriebenen Sätze abschreiben. Ich bin völlig verblüfft, dass meine Tochter nach drei Monaten bereits anfing zu lesen und zu schreiben, sowohl in Spanisch als auch in Deutsch, obwohl sie nie explizit Schrift oder Buchstaben durchgenommen hatten.

© privatDie Kinder haben insgesamt mehr Freiheiten, was Schülern von anderen Schulen, die diese Schule besuchen, immer sofort auffällt. Hier dürfen sie aufstehen, ohne um Erlaubnis zu fragen, um zum Beispiel auf die Toilette zu gehen.

Nach der achten Klasse werden die Kinder weiterführende Schulen besuchen.

Gehen die Kinder gerne in die Schule?
Absolut! Das Besondere ist, dass immer die Motivation an erster Stelle steht. 

Wie wird diese Lernmotivation entfacht?
Nach der Themenfindung wird demokratisch abgestimmt. Die Entscheidung fiel in unserem Fall auf das Thema Vögel. In diesem Zusammenhang wurde dann über Anatomie und Umweltschutz gesprochen. Das Zahlenverständnis wurde geschult, indem die Größe der Eier ausgemessen wurde, die sie nachtöpfern durften, und indem sie zählten, wie groß die Vogelschwärme waren. Aus Eierkartons wurden Nester gebastelt und Bohnen waren die Eier. Dabei galt es, 15 Bohnen gleichmäßig in drei Nester zu verteilen. Plus und Minus lernten sie dabei spielerisch. Die Kinder  lernen dabei sogar schneller als in der Regelschule, lernen sogar sehr tiefgehend. Nach Abschluss des Projektes wurde in die Natur gegangen, beobachtet und fotografiert. Sie sammelten auch Müll, weil sie lernten, dass kleine Vögel oft sterben, wenn die Vogeleltern versehentlich Plastik füttern, was die Kinder sehr bewegte. Bei der anderen Klasse ging es um Fische. Auch dort stieg die Sensibilisierung zum Thema Plastik. 

© privat
Wie läuft der Schulalltag ab?
Es gibt einen Morgen- und einen Abschiedskreis. Dabei wird jedes Kind täglich gefragt, wie es ihm geht. Hausaufgaben gibt es keine, dafür aber vier Nachmittage mit vielen Angeboten: Pflege des Schulgartens, Kunst, Musik, Chohr, Akrobatik, Sport, Tanz, Recycling Art und Theater, die Angebote wechseln je nach Nachfrage. Wer von den Eltern ein besonderes Talent hat, darf sich hier einbringen. Ein Pflichtfach ist die Erkundung der Umgebung. z.B.: Linienbussfahren mit einem Stadtplan in der Hand, in dem eingezeichnet wird, wo der Bus sich gerade befindet, Besuch auf dem Friedhof, ein Kajak-Ausflug, Besichtigung der Polizei und des Krankenhauses. Wenn es regnet, gehen die Kinder in die Bibliothek und lernen, sich zu informieren. Meine Tochter möchte dieses Nachmittagsangebot nie verpassen.
 
Es wird sehr viel Wert auf gesundes Essen gelegt: In der Pause gibt es nur Obst, Gemüse und Trockenfrüchte. Jeder legt am Morgen sein „Pausenbrot" in einen Korb. Das Obst wird dann von den Kindern selber zubereitet und unter allen aufgeteilt. Danach gibt es Küchendienst und natürlich noch viel Zeit zum Spielen an der frischen Luft.

Wie lernen die Lehrer die neue Unterrichtsart?
Sie wachsen mit der neuen Schule. Es gibt erst drei Klassen, wobei die erste Klasse von 3- bis 5- Jährigen noch Kindergarten ist, was ich sehr positiv sehe, weil es ein viel weicherer Übergang vom Kindergarten zur Schule ist. Wenn die Lehrer etwas nicht wissen, gestehen sie es einfach ein und sagen: „Diese Frage kann ich dir erst morgen beantworten." Dadurch werden die Kinder behutsam an die Vorzüge des Internets herangeführt. Man lernt dabei, wie man einen Computer bedient, was natürlich wieder die Lust aufs Lesen fördert, weil man den Laptop fragen möchte, und dabei ist das Lesen eben wieder die Voraussetzung, ihn zu bedienen.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Eltern?
Das Thema Gruppe ist sehr wichtig. Eltern dürfen jederzeit am Unterricht teilnehmen. 
Jeden Samstag kommt ein Rundmail an die Eltern, ein Feedback über die vergangene Woche. Darin wird berichtet, was im Unterricht durchgenommen wurde und eine Empfehlung darüber abgegeben, was man den Kindern am Wochenende vorlesen könnte oder auf welche Themen man sie vorbereiten soll.

Welche Methoden hat die Schule, wenn Kinder frech sind oder streiten?
Die Lehrer haben sehr viel Einfühlungsvermögen. Leider werden in Chile immer noch viele Kinder geschlagen, deshalb lassen sie oft ihre Aggressionen in der Schule aus. Bei Problemkindern werden die Psychologen unter Einbeziehung der Eltern tätig. Wenn Eltern aber überhaupt nicht mitmachen, dann könnte die Entscheidung für die Gruppe ausfallen und nicht für das Kind. Das kam aber bisher noch nicht vor. In der Klasse sind zwei bis drei Problemkinder, die oft den Unterricht verlassen und stören. Der Grund ist meistens die fehlende Anerkennung. Um die anderen Kinder nicht zu sehr zu stören, geht eine Lehrerin mit dem Kind dann für eine bestimmte Zeit aus der Klasse. Interessanterweise hat sich das aber gut eingespielt, weil diese Kinder schnell merken, dass sie von sich aus gerne lernen wollen. Es sind bereits zehn Kinder von der deutschen Elite-Schule gekommen, weil die auffälligen Kinder dort nur geschimpft und vom Unterricht verwiesen werden, aber keine weitere Betreuung erhalten.

Inwieweit haben Waldorf und Montessori Pate gestanden? Wurden Lernprogramme dieser Schulsysteme übernommen?
Die Schule hat einiges von diesen Systemen übernommen, verwirklicht aber ganz viele eigene Ideen. Vieles kommt auch vom schwedischen System des fächerübergreifenden Unterrichts. Das freie Arbeiten wurde zum Beispiel von der Montessori-Schule übernommen.

Wie wird es in Chile aufgenommen?
Es gibt bereits einen Ableger unserer „El Encuentro-Schule", in der zur Zeit 47 Kinder von fünf Lehrern unterrichtet werden, obwohl sie noch in den Kinderschuhen steckt. 

Was kostet die Schule, wie trägt sie sich und was verdienen die Lehrer?
Das Schulgeld beträgt pro Kind circa 260 Euro monatlich, aber nur für elf Monate. Dabei bezahlen 28 Schülereltern  den vollen Betrag und 19 Elternpaare nur zwischen 80 und 180 Euro. Wer weniger bezahlt, bleibt anonym, um keine Klassenunterschiede aufkommen zu lassen.  Staatliche Zuschüsse bekommt die Schule keine. Ich habe keine Ahnung, wie viel die Lehrer verdienen.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse über das fächerübergreifende Lernsystem?
Im Grundschulalter lehnt sich die Schule stark an das schwedische System an, bei dem es anfangs vorrangig um Wachstum, Entwicklung und Gehirnausbildung geht. In Schweden wurde diesbezüglich sehr viel Hirnforschung betrieben. Man stellte fest, dass die Kinder beim altmodischen Frontalunterricht oft schon nach 20 Minuten abschalten. Deshalb sind Sport, Musik und Kunst in der ersten Zeit die wichtigsten Fächer. Vor allen Dingen wird dadurch die Motivation und die Anfangseuphorie erhalten und den Kindern somit ein Absturz erspart, was bei den anderen Schulen leider oft der Fall ist. Bei den drei wichtigsten Fächern gilt dennoch von Anfang an der fächerübergreifende Unterricht. Zum Beispiel lernen sie  Gedichte und Lieder auf Englisch. 

Ist es ein Problem, wenn Ihre Tochter durch den Deutschlandaufenthalt jetzt länger nicht zur Schule kommt?
Nein, die Schule sieht es sogar sehr positiv, weil durch die zwei Monate, die wir gerade in Deutschland sind, eine internationale Dynamik in die Klasse kommt. Per Videokonferenz wird Kontakt gehalten. Zum Abschluss des Themas Vögel beobachtet meine Tochter derzeit die europäischen Vögel sehr genau und berichtet eifrig über die Unterschiede zu den südamerikanischen Vögeln.

Das Interview führte Hans Fritz

Gesellschaft | Bildung, 22.08.2018

     
        
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