Von der Willkommenskultur zur EU-Abschottungspolitik

Werner Mittelstaedt aktualisiert seine "15 Thesen zur Flüchtlingskrise" vom Februar 2016.

Werner Mittelstaedt ist Zukunftsforscher, Zukunftsphilosoph und zusammen mit renommierten Experten wie Ernst Ulrich von Weizsäcker, Bärbel Höhn u.a. Co-Autor des erfolgreichen Buches „Zukunft gewinnen", das im ALTOP-Verlag erschienen ist.

Sein Beitrag geht hochaktuell auf die EU-Abschottungspolitik ein. Die Behinderungen bzw. Verhinderungen der privaten Seenotrettung durch NGOs und die von der EU eingestellte Seenotrettung werden kritisch angesprochen. Darüber hinaus werden aktuelle Entwicklungen der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik und der Rechtsruck in der EU kritisiert. Abschließend werden fünfzehn hochaktuelle Thesen zum Themenkomplex Asyl, Flucht und Migration aufgeführt. Der Autor freut sich auf Ihre Kommentare.

© Werner MittelstaedtDie deutsche Willkommenskultur vom Spätsommer 2015 erstaunte die Welt. Deutschland öffnete damals für eine begrenzte Zeit vielen Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und anderen Krisenregionen seine Grenzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Behörden und unzählige ehrenamtliche Helferinnen und Helfer gingen bis an die physischen und psychischen Grenzen, um den Flüchtlingen die Ankunft und den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Die Bevölkerung spendete Geld, Kleider, Schuhe, Gegenstände. Diese Situation änderte sich nach nur wenigen Monaten. Dazu einige wenige Fakten: Etwa seit dem Spätherbst 2015 haben sich in den Ländern des Nordens, insbesondere in Europa und den USA, die Politiken gegenüber Flüchtlingen und Migranten überwiegend radikal verändert. So konnte der Milliardär, Rassist und Sexist Donald Trump am 8. November 2016 amerikanischer Präsident werden. Ein US-Präsident, der das praktisch Undenkbare in der Politik denkbar gemacht hat und nahezu täglich neue Rekorde an Tabubrüchen, primitiven Pöbeleien und Demagogie aufstellt. Trump unterstützt auch die Abschottungspolitik der EU und kritisierte Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik. Wenige Monate vorher, am 23. Juni 2016, stimmten in einem Referendum 51,89 Prozent der Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, den sogenannten "Brexit". Dieser kam insbesondere zustande, weil das Vereinigte Königreich sich in Europa gegenüber den Flüchtlingsströmen und der Migration durch die EU Kommission in Brüssel benachteiligt sah, obwohl es nachweislich seit einigen Jahren in Westeuropa mit Abstand die wenigsten Flüchtlinge, gemessen an der Einwohnerzahl, aufgenommen hat, nämlich nur 0,6 Flüchtlinge pro 1000 Einwohner (Stand: 2016, Quelle: Eurostat).
 
Seit dem Spätherbst 2015 wurde in Europa eine kritische Masse an EU-feindlichen und rechtspopulistischen Parteien erreicht, die seitdem in vielen europäischen Nationalparlamenten immer mehr die Politiken bestimmen oder beeinflussen (siehe auch im Internet mit einer aktuellen Liste rechtspopulistischer Parteien in den europäischen Nationalparlamenten).
 
In den letzten Jahren gewinnen in den Bevölkerungen der EU rechtspopulistische Parteien immer mehr Zustimmung für Einwanderungsstopp und weitere EU-Austritte nach dem Brexit. Rechtspopulistische Parteien setzen auf starke Nationalstaaten, sind rassistisch, vielfach antisemitisch und globalisierungsfeindlich. Sie sind gekennzeichnet durch Homophobie und leugnen den durch Menschen verursachten Klimawandel. In der rechtspopulistischen mit rechtsextremen Tendenzen identifizierten Partei »Alternative für Deutschland« (AFD), die in den letzten Jahren immer mehr Wahlerfolge verzeichnete und mit 12,6 Prozent der Wählerstimmen Ende September 2017 in den Deutschen Bundestag einzog, gibt es völkisch-nationalistische, rassistische, islamfeindliche und antisemitische Strömungen mit Verbindungen zu neurechten Gruppierungen, beispielsweise der rechtsextremen Identitären Bewegung und der fremdenfeindlichen Organisation Pegida (siehe auch den gründlich recherchierten Wikipedia-Eintrag im Internet).
 
Durch rechtspopulistische Parteien oder eine Regierungsbeteiligung rechtspopulistischer Parteien an den Politiken in Europa gibt es seit Jahren keinen Konsens mehr für die Aufnahme von Flüchtlingen. Immer mehr europäische Länder verweigern die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Dadurch haben sich auch zunehmend nicht rechtspopulistische Parteien in Europa für eine starke, restriktive Begrenzung für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Auch werden Regierungsparteien durch den Rechtsruck in den Bevölkerungen im Allgemeinen und durch rechtspopulistische Parteien, die keine Regierungsbeteiligung haben, beeinflusst. Ein Paradebeispiel dafür ist in Deutschland die aktuelle Politik der CSU, die durch eine restriktive Migrations- und Flüchtlingspolitik durch Innenminister Horst Seehofer die Wähler der rechts-populistischen AFD in Bayern wieder für die CSU zu begeistern versucht. Durch Horst Seehofer und die Interessen der CSU wurden die Themenkomplexe "Flüchtlingsströme" und "Migration" lange Zeit zum wichtigsten Politikthema in Deutschland gemacht. Hier machen es sich unsere Politiker auf Kosten der Flüchtlinge leicht, um die Bevölkerung von den wahren Problemen abzulenken, z.B. Wohnungsnot, Pflege, Altersarmut, eklatante Defizite für die nachhaltige Entwicklung und gegen den Klimawandel.
 
Die EU-Politik versucht seit Ende 2015, dass Europa seine Außengrenzen so dicht wie möglich macht. Dadurch wird auch die EU-Marinemission ""Sophia" und die private Seenotrettung durch 2 Nichtregierungsorganisationen auf dem Mittelmeer durch die neue italienische Regierung behindert. Die EU-Länder unternehmen dagegen viel zu wenig. "277 Flüchtlinge sind seit Anfang Juli 2018 im Mittelmeer ertrunken, fast 1.500 im laufenden Jahr. Von diesen Zahlen geht die Seenotrettungsorganisation Sea-Watch aus. Die Dunkelziffer ist mutmaßlich erschreckend hoch. Denn private Retter dürfen aus Häfen nicht mehr auslaufen. Ein Skandal", sagt Sozialwissenschaftlerin Sonja Skrobek. (Neue Westfälische im Internet vom 21. Juli 2018).
 
Sie sagte im Interview der Neue Westfälische weiter: […] Unsere Abschottungspolitik zwingt verzweifelte Menschen dazu, sich in die Hände von skrupellosen Schleppern zu begeben. Bis 2014 hat die EU Seenotrettung als eigene Aufgabe gesehen. Jetzt werden Unzählige als Abschreckung wissentlich ertrinken gelassen. Europa versenkt gerade seine eigenen Werte.« (ebd.) Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sagte zum Thema EU-Seenotrettung der »Bild am Sonntag« am 22. Juli 2018: »Unsere Humanität droht im Mittelmeer zu ertrinken. Das Mittelmeer ist inzwischen zu einem ›Meer des Todes‹ verkommen. Wenn diese Erosion der Menschenrechte weitergeht, hat die EU den ihr verliehenen Friedensnobelpreis nicht verdient und er muss aberkannt werden. Die EU hatte die Auszeichnung vor sechs Jahren erhalten - unter anderem für ihren Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung in Europa.«
 
In einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung schrieb der renommierte Journalist Heribert Prantl am 6. Juni 2018: »Die Zeit des Flüchtlingsschutzes in Europa geht zu Ende. Siebzig Jahre nach Beginn der Arbeiten am Grundgesetz, 69 Jahre nach der Verkündung des Asylgrundrechts und 67 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bewusstsein für den Wert von Asyl und Flüchtlingsschutz verschwunden. Es ist vom Gewicht der Zahlen und der Angst vor den populistischen Extremisten erdrückt worden. Es gibt keine Regierung in Europa mehr, die das Asylrecht offensiv verteidigt. Die Flüchtlinge werden nur noch numerisch registriert; ihre Geschichte, ihr Schicksal interessiert immer weniger. Die Rigorosität, mit der Kanzlerin Angela Merkel soeben im Bundestag das Ende jeglichen Abschiebestopps nach Afghanistan erklärte, ist ein Exempel. Die sogenannte Willkommenskultur vom Herbst 2015 soll vergessen gemacht werden.
 
Nicht nur die osteuropäischen Staaten verweigern sich dem Flüchtlingsschutz. Es verweigern sich auch die westeuropäischen Staaten, sie tun es nur nicht so offensiv und brachial. Die Anti-Flüchtlings-Pläne, die Macron und Merkel wenig verklausuliert ankündigen, lassen dem Rechtsschutz kaum noch Raum. Sie stützen sich auf eine noch kaum bekannte Konzeption der EU-Kommission, die den Zugang der Flüchtlinge zum europäischen Schutzsystem juristisch versperren will: Der inhaltlichen Prüfung jedes Asylantrags soll ein Zulässigkeitsverfahren vorgeschaltet werden, in dem dann in der Regel festgestellt wird, dass der Flüchtling überhaupt keinen Asylantrag stellen darf. Es soll immer dann auf ›unzulässig‹ erkannt werden, wenn es irgendeinen Staat in Heimatnähe des Flüchtlings gibt, der hierzulande als für diesen Flüchtling sicher gehalten wird. In diesen ›Drittstaat‹ soll er verbracht werden. Eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags gibt es dann nicht mehr. […]« (Siehe auch im Internet).
 
Lesen Sie weiter die aktualisierten Fünfzehn Thesen zum Thema Flucht und Migration.
 

Gesellschaft | Migration & Integration, 30.07.2018

     
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