Hydrogen Dialogue 2024

Der alte Mann und die Bäume

Ein Pionier erzählt von Rückschlägen, neuen Erkenntnissen und Besonderheiten.

Paolo Lugari hat einen Plan für die Menschheit. Und er ist überzeugt, dass es der einzige Plan ist, der ­unser Überleben auf dem Planeten Erde sichern wird: Wir müssen Bäume pflanzen. Viele Bäume.
 
Immer mehr Menschen lassen sich von Paolo Lugari begeistern und in Schwung bringen. © Isabela Cajiao-Angelelli
Ja, Elektroautos, Sonnenkollektoren und andere saubere Technologien bringen Fortschritt, aber – in Lugaris Vision – ist nichts besser, als Bäume zu pflanzen. Denn nur Bäume stellen Ökosysteme und die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre wieder her, von der das menschliche Leben abhängt. 1967 gründete er Las Gaviotas, ein experimentelles Dorf in den kargen, östlichen Savannen von Kolumbien. Niemand konnte sich vorstellen, dass dort jemals wieder etwas wachsen würde, nachdem die spanischen Eroberer vor 250 Jahren die letzten Bäume gefällt hatten.
 
„Andere testen soziale Experimente immer an den einfachsten, fruchtbarsten Orten. Aber wir wollten den schwierigsten Ort. Wir dachten uns, wenn wir es hier schaffen können, können wir es überall schaffen", sagt der heute 73-jährige Lugari. Seit der Gründung wurden auf 8.000 Hektar 9.000.000 Bäume gepflanzt. Zu Beginn des Projekts lebten etwa 20 Tierarten auf diesem Raum, jetzt zählen Forscher 250 Arten. Das sind mehr als in vielen anderen Teilen des Amazonas, und diese Zahl steigt weiter an.
 
Das Dorf des Visionärs
Wir, eine kleine Gruppe von Aktivisten und Unternehmern, besuchen das Dorf an einem bewölkten Tag. Als das Flugzeug den grasbedeckten Landeplatz anfliegt, sehen wir, dass Las Gaviotas überwiegend von staubigen Savannen umgeben ist. Nach einer Begrüßung geht es weiter in einem vom Schrottplatz geretteten Bus, der als fahrendes „Klassenzimmer" dient. „Damit das Leben auf der Erde weitergeht, brauchen wir Wälder, die 50 Prozent des Planeten bedecken. Das ist unsere Lebensversicherung", sagt Lugari vom umgekehrten Fahrersitz. Und er fährt fort: „Eine Yale-Studie von 2015 schätzt, dass es auf der Welt 3.000.000.000.000 (drei Billionen) Bäume gibt. Die Gesamtzahl der Bäume ist seit Beginn der menschlichen Zivilisation um rund 46 Prozent gesunken, und wir verlieren jedes Jahr weitere 15 Milliarden Bäume (0,5 Prozent der gesamten Wälder). Das ist der Trend, den wir stoppen müssen".
 
Ein Grund zur Hoffnung, aber nicht zum Aufatmen
Es gibt positive Zeichen. Die Wälder in Europa sind in den letzten 100 Jahren um ein Drittel gewachsen und in Nordamerika übersteigt das Wachstum der Waldflächen mittlerweile die der Holzernte. Aber die Zerstörung der Regenwälder im Amazonasgebiet, in Asien und Afrika geht weiter. Auch die jüngsten Berichte über die Abholzung eines UNESCO-Kulturerbes in Polen gehören zu den schmerzhaften Entwaldungsgeschichten.
 
"Bäume pflanzen ist so einfach, dass es schwierig wird, die Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt."
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat eine Studie veröffentlicht, in der es heißt, dass das Pflanzen von Bäumen nicht ausreicht, um die Kohlendioxid-Emissionen zu reduzieren. Nach Ansicht von Paolo Lugari ist dies jedoch eine sehr eingeschränkte Sicht auf die vielfältigen Auswirkungen von Bäumen. Der Mann, der vom Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez als „der Erfinder der Welt" beschrieben wurde, spricht nicht über Klimawandel, globale Erwärmung oder gar CO2-Emissionen. Lugaris Ansatz ist ganzheitlicher.
 
Das Land wurde durch die neu gepflanzten Bäume wieder grün und der Boden kann die Regenfälle optimal speichern. So gut, dass heute wieder frische Quellen sprudeln. © Isabela Cajiao-Angelelli Bäume als ultimative Wohltäter der Menschheit
„Das ist Schokolade, aber es ist keine Schokolade", sagt Lugari, als er in einer der Pflanzenschulen von Las Gaviotas auf eine Art Kartoffel zeigt. Die Kartoffel riecht tatsächlich nach Schokolade. Dann zeigt er uns eine Spinatpflanze, „die kein Spinat ist", und Kaffee, „der keiner ist". „Warum baust du nicht ,echten‘ Kaffee an", fragen wir? Mit einem großen Lächeln sagt Lugari: „Das sind die Pflanzen, die der Wald uns gegeben hat." Und darum geht es Lugari.
 
Vor vier Jahrzehnten begann er Bäume zu pflanzen. Nachdem er die lokale Umgebung sorgfältig analysiert hatte, entschied er sich, die karibische Kiefer zu pflanzen, die er in Nicaragua gefunden hatte. Aber trotz all seiner Sorgfalt war der komplette Bestand nach sechs Monaten abgestorben. Er ging zurück nach Nicaragua, und als er die Bäume genauer studierte, entdeckte er, dass die gesündesten Kiefern Pilze an ihren Wurzeln hatten. Also beschloss Lugari, seine Kiefernsamen mit den Pilzsporen zu vermischen. Es funktionierte. Die Kiefern wuchsen und begannen, den Boden von Las Gaviotas vor der tropischen Sonne und dem Austrocknen zu schützen. Samen, die seit Jahrhunderten begraben waren, erwachten zu neuem Leben und schufen einen Regenwald mit unfassbarer Artenvielfalt und eben auch essbaren Wildpflanzen.
 
Wasser als Grundlage des Lebens
Die Erfahrung von Las Gaviotas zeigt, dass Bäume nicht nur Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen, sondern auch den Boden wiederherstellen, was Lugari „die Haut der Erde" nennt. Somit können Dutzende von Arten zurückkehren, welche zu einem intakten Ökosystem beitragen. Die Wurzeln all dieser neuen Bäume und Pflanzen regulieren perfekt den Grundwasserspiegel. Wo vorher Trockenheit herrschte, füllt Las Gaviotas jetzt Trinkwasser ab, das in Restaurants in Bogotá verkauft wird. Die junge Waldbedeckung erzeugt stetig steigende Regenfälle. Dies zeigen meteorologische Daten, die seit vier Jahrzehnten vor Ort erfasst und dokumentiert werden. „Das Pflanzen von Bäumen ist ein ausgezeichnetes Umweltgeschäft. Bisher hat noch niemand herausgefunden, wie hoch der ökologische Wert eines Baumes ist. Aber es ist weit mehr als der Gesamtwert des Holzes und die Fähigkeit zur Speicherung von Kohlenstoff. Deshalb", so Lugari, „gibt es nichts Wichtigeres, als Bäume zu pflanzen."
 
"Wo vorher Trockenheit herrschte, füllt Las Gaviotas jetzt Trinkwasser ab, das in Restaurants in Bogotá verkauft wird."
Zumindest in seinem Geburtsland Kolumbien wurde ihm Gehör geschenkt. Im letzten Jahr hat der kolumbianische Kongress ein Gesetz verabschiedet, nach dem jeder Bürger des Landes fünf Bäume pflanzen und pflegen muss. Das Gesetz beinhaltet Anreize wie den bevorzugten Zugang zu höherer Bildung für Bürger, die Bäume pflanzen. Kolumbiens Bemühungen sind ein Schritt in die richtige Richtung und ein Beispiel für die restliche Welt.
 
Doch damit gibt sich Lugari nicht zufrieden: „Wir brauchen viel größere Zahlen!" Und er rechnet uns in schwindelerregender Geschwindigkeit vor: Laut der Yale-Studie gibt es drei Billionen Bäume auf der Welt. Sie bedecken 31 Prozent der Landfläche der Erde. Wenn wir aus diesen 31 Prozent 50 Prozent machen wollen, brauchen wir insgesamt 50/31 x 3 Billionen = 4,8 Billionen Bäume. Mit anderen Worten: Wir müssen zusätzliche 1,8 Billionen Bäume pflanzen. Wenn wir das mit 7,5 Milliarden Bürgern des Planeten Erde tun, muss jeder von uns 240 Bäume pflanzen – und alle müssen überleben ...
 
Wo früher karge Steppe war, reichen heute Wälder, so weit das Auge reicht. © Isabela Cajiao-Angelelli Bäume retten und Bäume pflanzen im Akkord
Hier hilft es, einige unserer Gewohnheiten zu ändern. Papier aus Bäumen zu machen, ist eine enorme Verschwendung – trotz der Tatsache, dass fast alle diese Bäume aus Produktionswäldern stammen. Um das zu unterstreichen, verteilt Lugari Notizbücher aus „Steinpapier". Es gibt weitere kreative Möglichkeiten, den Papierverbrauch zu reduzieren. Scientific American argumentierte kürzlich, dass die Verwendung von Bidets (zur Reinigung unserer Unterseite) jährlich 36,5 Milliarden Rollen Toilettenpapier oder 15 Millionen Bäume allein in den USA sparen könnte.
 
Doch Bäume zu retten ist nicht genug. Wir müssen neue pflanzen. Und das ist die Kunst, die Las Gaviotas perfektioniert hat. Die Baumschule kultiviert die Setzlinge in einem Boden, der mit Pilzsporen vermischt ist. Anschließend werden sie mit einem Traktor und einem speziell konstruierten Anhänger gepflanzt. Die Besucher erleben, wie zwei Männer auf einem Feld, das durch einfaches Pflügen vorbereitet wurde, diese Arbeit ohne große Mühe verrichten. Theoretisch könnten sie in 24 Stunden 100 Hektar mit 1.100 Bäumen pro Hektar bepflanzen.
 
Doch es kommt noch besser: Auf Las Gaviotas überleben 92 Prozent der Bäume. Lugari möchte diese Erfahrungen und Techniken weitergeben: „Jeder kann unsere Technologie nachahmen." Die Technik von Las Gaviotas funktioniert möglicherweise auch an anderen Orten. Lugari betont jedoch deutlich, dass jeder Ort und jede Umgebung einen spezifischen lokalen Ansatz erfordert. Während seiner Reisen wurde er oft gebeten, sein „Wunder" in anderen Teilen der Welt zu reproduzieren. Aber seine Antwort an Präsidenten und andere Regierungsbeamte war immer die gleiche: „Sie brauchen ihren eigenen Lugari, der die einzigartigen lokalen Umstände kennt und versteht." Dennoch behauptet der Visionär, dass das Pflanzen von Bäumen billig und sehr einfach ist. Es erfordert keine Abschlüsse, sondern nur Begeisterung. Er zitiert gerne seinen Vater, der ihm sagte: „Eine Person mit Enthusiasmus ist viel wertvoller als ein Nobelpreisträger."
 
So einfach und doch so schwer?
„Bäume zu pflanzen ist so einfach, dass es schwierig wird, die Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt", behauptet Lugari mit seinem charakteristischen Lächeln. Er bezieht sich auf den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, der bekanntlich sagte: „Wir haben uns entschlossen, […] zum Mond zu fliegen […], nicht weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist..." Lugari fügt hinzu: „Die Menschheit hat damit getan, was schwierig war, aber wir müssen noch tun, was leicht ist... Bäume pflanzen!"
 
Sein erster Traum ist es, die elf Millionen Hektar karger Savannen entlang des Orinoco-Flusses im Osten Kolumbiens zu bepflanzen, um das Land wieder mit dem Amazonas-Regenwald zu verbinden – so wie es vor Tausenden von Jahren war. Darüber hinaus gibt es im Rest von Südamerika 250 Millionen Hektar Savannen, ähnlich wie in Las Gaviotas, die neu bepflanzt werden müssen. Damit würden ungefähr 20 Prozent von Lugaris Ziel erreicht werden, die Erde wiederaufzuforsten, und es gibt noch fünf andere Kontinente...
 
„Es spielt keine Rolle, wo du Bäume pflanzt. Ein Baum in Las Gaviotas verbessert auch die Luftqualität in New York", erklärt der südamerikanische Vorreiter. „Die schlimmste Wüste ist in unseren Köpfen. Mangel an Vorstellungskraft ist das größte Hindernis. Wir müssen die Lebensfähigkeit der Erde wiederherstellen – Und das zu einem Bruchteil der Kosten, die wir für die Reise zum Mond benötigten!" Am Ende des Tages, als unser Flugzeug vom Feld startet, winkt uns Paolo Lugari zum Abschied, gemeinsam mit den etwa 200 Dorfbewohnern von Las Gaviotas. Wir versuchen uns vorzustellen, wie er sich gefühlt hat, als er vor fast 50 Jahren zum ersten Mal hierher kam. Nichts war da, nur sein Mut, einen scheinbar unmöglichen Traum zu träumen …
Als der wiedergeborene Wald von Las Gaviotas langsam von den Fenstern unseres Flugzeuges verschwindet und unter uns die kargen Savannen zurückkehren, verstehen wir Paolos Botschaft: Wir haben endlose Möglichkeiten, dem Klima und uns Menschen Gutes zu tun, wir müssen einfach nur anfangen. Jetzt!
 
Jurriaan Kamps war Gründer und Chefredakteur des Ode Magazins in den Niederlanden im Jahr 1995. Im Jahr 2004 brachte er die international englische Ausgabe von Ode in die Vereinigten Staaten, welche 2012 in The Intelligent Optimist umbenannt wurde und nun zweimonatlich erscheint. Das Magazin konzentriert sich auf die Darstellung von Problemlösungen für den Planeten und die Menschheit.
 
Nancy Reeds Leidenschaft war es schon immer sich für die Erhaltung der Natur, den Schutz von Kindern, die gewaltfreie Konfliktlösung und die Förderung des Weltfriedens durch interkulturelle Bildung und Kooperation einzusetzen.

Umwelt | Klima, 10.04.2018
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