Barrieren und Potenziale bei der Transformation von Lebensstilen

Wie kann der Mensch "nachhaltiger" werden?

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts wächst die Erkenntnis, dass wir mit wachsenden Umweltproblemen, lokal und weltweit, konfrontiert sind. Etwas verzögert kommt dazu die Einsicht, dass diese Probleme - von der Klimaerwärmung, über die Schädigungen von Böden und Meeren bis zur Abnahme der Artenvielfalt - auf die Aktivitäten von Menschen zurückzuführen sind: auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe, die Art der Landbewirtschaftung, die Abholzung der Wälder, das Überfischen der Meere u a. m. Wir haben es nicht mit einer Krise der Natur, sondern mit einer Krise der menschlichen Gesellschaft zu tun, genauer, einer Krise des Verhältnisses des Menschen zu seiner Umwelt, zur Natur, die sich immer auch im konkreten Verhalten niederschlagen. Daraus folgt, dass sich das Verhalten von Individuen und Gruppen ebenso wie das Handeln von Kommunen, Nationen und der internationalen Staatengemeinschaft ändern muss.


Nachhaltige Entwicklung als individuelle und globale Transformationsaufgabe

Wir sollten uns nicht nur auf den gesunden Menschenverstand, sondern auch auf die neuesten psychologischen Erkenntnisse verlassen, um menschliche Verhaltensweisen zu interpretieren und zum Wohle einer nachhaltigen Entwicklung zu verändern.
Foto: © Martin Hieslmaier
Spätestens seit der Rio-Konferenz 1992 wurde zur Bewältigung dieser Probleme das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in die weltweite Diskussion eingeführt. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass bisher getrennt voneinander behandelte Dimensionen von Mensch-Umwelt-Beziehungen - ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle - in ihrer Vernetztheit betrachtet und austariert werden müssen.

Wenn wir heutzutage mit offenen Augen und Ohren Nachrichten und Diskussionen in der Öffentlichkeit und in den verschiedenen Medien verfolgen, könnte der Eindruck entstehen, dass Idee und Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung schon weit verbreitet seien. Der Eindruck täuscht. Selbst mit der Rhetorik tun wir uns noch schwer. "Nachhaltig" ist immer häufiger schon alles, was länger währt als eine Eintagsfliege, sei es die Wirkung einer Schmerztablette oder - geradezu paradox - die Finanzkrise.


Wie kann der Mensch "nachhaltiger" werden?

Als Psychologin werde ich meist auf das individuelle Verhalten angesprochen, da sich die Psychologie im Konzert der Sozial- und Verhaltenswissenschaften vor allem mit dem Individuum beschäftigt. In vielen öffentlichen und politischen Diskussionen wird immer wieder die Ansicht vertreten, dass vor allem mangelndes Wissen als Barriere für umweltbewusstes oder nachhaltiges Handeln in Betracht kommt. Ungezählte Materialien, Module und Hochglanzbroschüren werden produziert, um das Wissen zu vermehren. Dahinter steht die Annahme, dass genaueres, vermehrtes Wissen quasi automatisch zu nachhaltigerem Handeln führt. Diese Annahme ist - wie durch langjährige Forschung immer wieder belegt - nicht haltbar. Die Korrelation zwischen Wissen allein, d h. ohne Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren und Handeln ist sehr gering. Wie diese Einflussfaktoren zu gewichten sind und miteinander interagieren, kann nicht einfach vorhergesagt werden. Doch immerhin gibt es zu einzelnen Handlungsfeldern und verschiedenen Zielgruppen schon genügend Forschungsergebnisse, so dass man sich heute nicht auf den "gesunden Menschenverstand" verlassen muss ("Menschen handeln eben wider besseres Wissen"), sondern durchaus auf "evidenzbasierte" Wissensbestände zurückgreifen kann.


Mensch-Umwelt-Beziehungen sind komplex

Zur Differenzierung der multiplen Bedingungen von Mensch-Umwelt-Beziehungen als Barrieren oder Potenziale für nachhaltiges Handeln lassen sich sinnvoll drei Gruppen unterscheiden: personale (bzw. individuelle) Faktoren, soziale und/oder interpersonale Faktoren sowie externe (d. h. situative, geographische, ökonomische u.a.) Bedingungen. Dazu einige Beispiele (s. Kruse 2013):
  • Für viele (Umwelt-)Probleme hat der Mensch keine spezifischen Sinnesorgane (z. B. Radioaktivität) und auch schleichende Veränderungen (z.B. ein Temperaturanstieg um 2 Grad in 300 Jahren) kann er nicht wahrnehmen. Umso wichtiger sind verständliche Rückmeldungen über den Erfolg oder Misserfolg nachhaltigkeitsorientierter Handlungen.
  • Die räumlichen, zeitlichen und auch sozialen Distanzen zwischen Verursachern und Geschädigten (z. B. zwischen den CO2-emittierenden Industrieländern und betroffenen Ländern des Südens) verschleiern Ursache und Wirkung.
  • Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle beeinflusst Risikowahrnehmung und -verhalten: Die eigene Umgebung wird für sauber und ungefährdet gehalten und Schäden eher bei den "Anderen" gesehen. Zu berücksichtigen sind auch die oft sehr unterschiedlichen Risikobewertungen von Experten und Laien.
  • Zwischenmenschliche und mediale Kommunikation beeinflusst entscheidend, ob bestimmte - z. B. nachhaltigere - Verhaltensangebote akzeptiert oder abgelehnt werden. Das "Lernen am Modell", d. h. von vertrauenswürdigen, geschätzten Personen, wird als Einflussfaktor noch zu wenig einbezogen.
  • Von großer Bedeutung sind auch externe Bedingungen, wie Handlungsanreize (Belohnungen, Statusgewinn, Bestrafungen) und Handlungsangebote (ÖPNV, energiesparende Geräte) und weitere Rahmenbedingungen, die Verhalten fördern oder behindern können.

Die Transformation von Lebensstilen als Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung setzt somit voraus, dass man die mögliche Wirkung individueller, sozialer und externer Einflüsse kennt, um mit einem empirisch fundierten Methodenmix nachhaltige Handlungsalternativen gestalten zu können.

Die (noch) häufig anzutreffende "Alltagspsychologie" - schließlich "weiß" man doch, wie Menschen funktionieren - ist weder effektiv noch effizient und schon überhaupt nicht zielgruppengerecht.


Querdenken statt Ressortdenken ist gefragt

Allein die Eigenarten der räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sind bedeutsame Barrieren für den Umgang mit Nachhaltigkeitsproblemen. Hinzu kommt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und daher die individuelle, aber auch kollektive Sozialität mit ihren Auswirkungen auf Identitätsentwicklung und Normen, auf gruppenorientierte Verhaltensweisen und Netzwerke zu berücksichtigen ist. Und schließlich darf der geographische, technische, infrastrukturelle, rechtliche und ökonomische Kontext, in dem nachhaltiges Verhalten zu verorten ist, nicht übersehen werden. Manche Veränderungen individuellen Verhaltens lassen sich deshalb leichter durch entsprechende Umweltgestaltung und entsprechendes Umweltmanagement beeinflussen, als durch personenorientierte Verhaltensge- und -verbote.

Nachhaltige Entwicklung bedeutet einen Wandel von Lebensstilen in vielen Bereichen, wie Konsum, Produktion, Bauen, Wohnen, Mobilität, Ernährung. Dabei geht es um eine Große Transformation als Gesellschaftsprozess (WBGU 2011), der viele kleine Transformationen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften einschließt. Nachhaltige Entwicklung verlangt einen Kulturwandel, in dem die verschiedenen Dimensionen von Mensch-Umwelt/Natur-Verhältnissen, wie Technik, Wissenschaft, Wirtschaft, soziopolitische Strukturen, Bildung, aber auch Werte, Einstellungen, Normen und Kommunikationsmuster immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden müssen, um Barrieren zu identifizieren und Potenziale ihrer Veränderbarkeit zu nutzen.

Dazu sollte das Querdenken gefördert werden. Nicht nur in der Wissenschaft müssen wir naturwissenschaftlich-technische und sozial- und verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse interdisziplinär zur Problemlösung einsetzen. Querdenken gilt auch für die Verwaltungen, für Schulen und Unternehmen. Ressortdenken ist auf den Prüfstand zu stellen und die Wissensbestände und Handlungspraktiken anderer Akteursgruppen sollten in partizipativen Prozessen fruchtbar gemacht werden (Transdisziplinarität). Nachhaltige Entwicklung kann nur in einer Experimentiergesellschaft gelingen, die, fern von einem Handeln nach Versuch und Irrtum, möglichst umfassend wissenschaftliches und gesellschaftliches Wissen einbezieht.

Wie werden wir also "nachhaltiger"? Nur in konzertierten Aktionen, die einen politischen Willen zur Transformation voraussetzen und entsprechende Handlungsschritte und -grundlagen konsequent fördern.


Referenzen
  • Kruse, L. (2013): Vom Handeln zum Wissen - ein Perspektivwechsel für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: N. Pütz, M.K.W. Schwee & N. Logemann Bildung für nachhaltige Entwicklung. (S. 31-57). Frankfurt/M.
  • Kruse, L. (2013): Nachhaltige Entwicklung - humanökologische Herausforderung aus psychologischer Sicht.
    Natur und Landschaft, 88, (2), 63-68
  • WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) (2011): Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin
Von Prof. Dr. Lenelis Kruse-Graumann, Psychologisches Institut, Universität Heidelberg  

Quelle:
Gesellschaft | Bildung, 22.01.2014

     
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