Flüchtlinge auf dem Weg in die Selbstständigkeit

Integration durch Unternehmertum

Sie waren IT-Experten, Architekten oder Familienunternehmer – bis sie durch Konflikte ihre Heimatländer verlassen und komplett von vorne beginnen mussten. Beruflich in Deutschland Fuß zu fassen ist für Geflüchtete eine enorme Herausforderung. Das Berliner Projekt Ideas in Motion unterstützt Neuankömmlinge und hilft ihnen, ihr eigenes Unternehmen zu gründen.

Ideas in Motion, das erste Inkubator-Programm mit einem Fokus auf Geflüchtete als Entrepreneure hat das Ziel, Geflüchtete und Einheimische zu vernetzen und über eine Beschäftigung die Integration zu erleichtern. © ideasinmotionIn Deutschland nimmt die Anzahl der Unternehmen und Gewerbebetriebe ab. 2016 standen rund 282.000 Gründungen 311.000 Liquidationen gegenüber. Die Zahl der Existenzgründungen ist in den letzten zehn Jahren um zwei Prozent rückläufig. Grund ist neben mangelnder Risikobereitschaft der Deutschen auch eine gute Konjunktur – angesichts sicherer Arbeitsplätze sehen viele Menschen keinen Anreiz, ein Unternehmen zu gründen. Schläft die deutsche Gründerszene langsam ein? Nicht ganz, denn ein echter Hoffnungsschimmer sind Menschen mit Migrationshintergrund. Sie machten 2016 42,5 Prozent der gewerblichen Gründungen aus und die Zahl der migrantischen Unternehmen ist in den letzten zehn Jahren um rund 30 Prozent gestiegen.

Der Weg in die Selbständigkeit ist für Migranten besonders schwierig
Eine Anstellung zu finden, ist für viele Geflüchtete ein schwieriges Unterfangen. Das Potenzial für Neugründungen durch Migranten ist jedoch groß. Für sie schafft eine selbständige Beschäftigung die Möglichkeit, ein Auskommen zu finden und ihre Geschäftsideen auf den Markt zu bringen. Oder ein Unternehmen wieder aufzunehmen, das sie aufgrund ihrer Flucht aufgeben mussten. Allerdings haben die Neuankömmlinge dabei – abgesehen von der Sprache – mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Neben einer für sie unbekannten Unternehmens- und Geschäftskultur gilt es auch die Hürden der Bürokratie zu bewältigen und ein Regelwerk an Gesetzen und Normen zu durchschauen, das selbst manchen Muttersprachler an seine Grenzen bringt. Zudem ist der Zugang zu Startkapital für die Migranten noch schwieriger als für deutsche Geschäftsgründer. Viele Banken sehen es schlicht als zu hohes Risiko an, Geflüchteten Geld zur Verfügung zu stellen. Das gilt insbesondere für Mikrokredite, die oft Rückzahlungszeiträume von bis zu sechs Jahren haben, während viele Menschen mit Migrationshintergrund nur eine Aufenthaltsgenehmigung über drei Jahre bekommen. Auch die Finanzierung durch das Jobcenter, das Unternehmensgründern gegebenenfalls mit Startkapital unter die Arme greift, erweist sich als schwierig. Das Ziel des Jobcenters ist es, Menschen möglichst schnell den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Da die Unternehmensgründung durch Flüchtlinge mit vielen Hürden verbunden ist, versucht das Jobcenter sie eher als Angestellte in den Arbeitsmarkt zu integrieren. 

„Ich wollte mich integrieren, aber wusste einfach nicht wo ich anfangen soll."

Inkubator-Programm hilft Herausforderungen zu meistern
Durch diese anfänglichen Hürden können viele Neuankömmlinge ihre unternehmerischen Vorhaben nicht umsetzen – und damit geht eine Menge kreatives und wirtschaftliches Potenzial verloren. Ideas in Motion, das erste Inkubator-Programm mit einem Fokus auf Geflüchtete als Entrepreneure will das ändern. Das Berliner Projekt ist ein Zusammenschluss von SINGA Deutschland und Re:Start. Beide Unternehmen haben das Ziel, Geflüchtete und Einheimische zu vernetzen und über eine Beschäftigung die Integration zu erleichtern. Unterstützt werden sie dabei von der Agentur Service innovation Labs (SI Labs), die sich darauf spezialisiert hat, innovative Geschäftsideen in nutzerorientierte Services und Produkte zu übertragen. Der erste Jahrgang des Programms begann am 01. März 2017 mit sieben Geflüchteten, die fünf Monate lang bei der Umsetzung ihrer Geschäftsidee begleitet wurden. Am Projekt Ideas in Motion sind etwa 30 Personen beteiligt, von denen viele ehrenamtlich als Mentoren und Trainer arbeiten. Sie unterstützen die Neuankömmlinge bei bürokratischen Fragen, klären über die Gesetzeslage bei Steuerrecht und Versicherungen auf und begleiten die Geflüchteten bei Behördengängen. Luisa Seiler, Mitgründerin von SINGA Deutschland, stellt die positiven Aspekte des Projektes in den Vordergrund: „Deutsche Gründer sind oft junge Menschen ohne vorherige unternehmerische Erfahrung. Die Teilnehmer unseres Programms bringen neben jahrelanger Berufs- oder Unternehmererfahrung auch eine frische Perspektive und innovative Ansätze aus ihrem Heimatland mit." Um dieses Potenzial zu fördern, ist das Programm in eine Konzeptphase und eine Umsetzungsphase aufgeteilt. In der ersten Phase werden Kernkompetenzen vermittelt. Hier lernen die Teilnehmer, was bei der Gründung eines Unternehmens in Deutschland zu beachten ist. Zudem werden grundlegende Punkte der geplanten Geschäftsmodelle in Machbarkeitsanalysen überprüft und mit Prototypen auf die Probe gestellt. In dieser zwei Monate andauernden Phase finden wöchentlich drei Kurse statt. In den restlichen drei Monaten dreht sich dann alles um die Umsetzung der Geschäftsideen. Dazu werden Kompetenzen in Marketing, Buchhaltung und Vernetzung geschult. In den Workshops werden die Entrepreneure in den gleichen Service-Innovationsmethoden gelehrt, die SI Labs auch in der Projektarbeit mit DAX Konzernen anwendet. Außerdem finden zwei „idea parties" statt, bei denen jeweils die Hälfte der Unternehmer ihre Ideen vor einem ausgewählten Publikum vorstellt und diskutiert. So wird schon vor Abschluss des Programms ein Kontakt zu möglichen Geschäftspartnern und Kunden hergestellt.

Von Mode bis IT
In Service Design Workshops wurden die sieben angehenden Entrepreneure bei der Umsetzung ihrer Geschäftsidee durch das Team von ­Service Innovation Labs unterstützt – dazu gehört auch das individuelle Gespräch unter vier Augen. © ideasinmotionDie in der ersten Runde umgesetzten Geschäftsmodelle sind breit gefächert: Ein syrischer Architekt möchte über eine digitale Plattform den Wiederaufbau in seiner Heimatstadt Homs unterstützen. Ein Modedesigner verbindet handwerkliches Können und Einflüsse seines Heimatlandes mit Berlins Modeszene. Und ein Duo aus IT-Spezialisten möchte mit einer Art „Gelbe Seiten" einen Online-Leitfaden für den unübersichtlichen Angebots-Dschungel für Neuankömmlinge entwickeln. „Nach meiner Ankunft in Deutschland habe ich zehn Monate damit verbracht, Informationen zu suchen. Ich wollte mich integrieren, aber wusste einfach nicht, wo ich anfangen soll."

Auch nach Abschluss des fünfmonatigen Programms ist eine weitere Begleitung der Teilnehmer geplant. Wie diese genau aussehen kann, wird derzeit noch diskutiert. Möglich wäre ein regelmäßiges Treffen der neuen Entrepreneure oder ein Alumni-Programm. Neben diesen Überlegungen gilt es, bereits die nächste Runde von Ideas in Motion zu planen und Lernerfahrungen des Pilotprojektes zu reflektieren. Die Bewerbungsphase beginnt voraussichtlich Mitte September 2017, ab Mitte November soll dann die nächste Runde starten.

Nominierung für den Deutschen Integrationspreis
„Aufgrund der guten Erfahrungen und der Unterstützung durch die Hertie-Stiftung möchten wir das Programm beim nächsten Mal auf 15 Teilnehmer ausweiten", sagt Luisa Seiler. Ideas in Motion wird größtenteils über Spenden von Unternehmen und Privatpersonen sowie durch Stiftungen finanziert. Das Programm ist für den Deutschen Integra­tionspreis der Hertie Stiftung nominiert, der am 26. Oktober 2017 in Frankfurt vergeben wird. Über eine Schwarmfinanzierungs-Kampagne des Deutschen Integrationspreises konnte Ideas in Motion zusätzlich unterstützt werden. Dennoch ist das Projekt derzeit nur durchführbar, weil viele der Mentoren und Trainer pro bono arbeiten und Räumlichkeiten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Langfristig soll das Inkubator-Programm daher spendenunabhängig werden, zum Beispiel durch eine Gewinnbeteiligung bei den neu gegründeten Unternehmen.

Neue Perspektiven helfen Gründerszene auf die Sprünge
Bei der Konzeption sind die Macher von Ideas in Motion mit anderen Programmen in Frankreich, der Schweiz, Großbritannien und den Niederlanden im Gespräch, um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Auch die Bundesregierung hat das Potenzial von Menschen mit Migrationshintergrund als Unternehmer erkannt und zusammen mit den deutschen Wirtschaftsjunioren das vom BMWi geförderte Projekt „Start-Up Your Future" ins Leben gerufen, bei dessen Konzeption die Macher von Ideas in Motion beratend zur Seite standen. Das Programm soll Akteure aus der Wirtschaft und Flüchtlinge miteinander vernetzen und Geflüchtete dabei unterstützen, ein Unternehmen zu gründen. In Hamburg hat der Verein „leetHub St. Pauli" gerade das sechsmonatige Inkubator-Programm „MoveON" beendet, das im Herbst in die nächste Runde gehen soll. Und in Frankfurt richtet sich das das Projekt „ChancenNutzer" gezielt an junge, arbeitslose Menschen mit Migrationshintergrund, die den Sprung in die Selbständigkeit wagen wollen. Weitere Projekte sind geplant oder stehen kurz vor dem Beginn, zum Beispiel in München. Laut Luisa Seiler ist das Interesse aus der Wirtschaft groß: „Besonders aus der Start-up-Szene kommen viele Menschen auf uns zu und möchten bei Ideas in Motion involviert sein. Die Menschen erkennen den Mehrwert in Bezug auf Diversität, innovative Ideen und neue Perspektiven."

Von Sebastian Henkes

Gesellschaft | Migration & Integration, 30.09.2017
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2017 - Tierische Geschäfte erschienen.
     
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