"Die meisten haben es einfach noch nicht begriffen"

Professor Schellnhuber spricht Klartext

Bundesrat und Bundestag billigten diese ­Woche das Gesetz, das Pariser Abkommen zu ratifizieren. Gleichzeitig streicht die Regierung wesentliche Punkte des Klimaschutzplans. Verstehen Sie diesen Gegensatz?
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Joachim Schellnhuber ist seit Gründung des Instituts im Jahr 1992 Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Er ist außerdem Co-Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen. © PIK-BatierDieser Gegensatz bildet in gewisser Weise ab, was in Paris passiert ist. Man hat nach 30 Jahren endlich eine adäquate ­Zielsetzung gefunden, nämlich die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begren­zen. Das entspricht dem, was wir aus wissenschaftlicher Sicht schon seit langer Zeit kommunizieren. Und das ist ein großer Fort­schritt. Aber die Anerkennung eines Ziels heißt noch lange nicht die Anerkennung der dafür notwendigen Taten.

In Paris wurde gesagt: Wir wollen es versuchen. Aber es gibt dafür noch keine konkreten Maßnahmen und keine Sanktionsmechanismen. Das Einzige, was man versprochen hat, ist: Man will sich anstrengen und wird alle fünf Jahre Bilanz ziehen. Paris ist also zunächst eine Bemühenszusage.

Wo aber bleibt das „Bemühen" der Bundesregierung, wenn sie konkrete Maßnahmen und Zeitpläne im Klimaschutzplan streicht?
Die Bemühenszusage ist die eine Ebene, die Umsetzung ist die andere. Und da ist es zunächst Ermessensfrage, ob man das Bemühen auf nationaler Ebene realisiert, indem man harte Zahlen in einen Klimaschutzplan schreibt, oder ob man sich weicher Formulierungen bedient und hofft, dass sich das Ganze trotzdem zurechtrüttelt. Es ist ja nicht so, dass der Klimaschutzplan in dieser abgeschwächten Form schon beschlossen wäre. Der Entwurf geht jetzt in die Ressortabstimmung und dort wird er weiterdiskutiert. Das heißt auch, dass er wieder um konkretere Zahlen ergänzt werden könnte. Könnte!

Gleichzeitig meinen manche: Wenn die lang­fristigen Ziele erst richtig gesetzt sind, dann kommt es für den Augenblick nicht so sehr darauf an, ob wir in die falsche Richtung gehen oder zu langsam – denn dann lässt sich das später noch nachjustieren. Aber wenn ich jetzt schon nicht ehrgeizig vorgehen möchte, warum sollte ich dann später umso ehrgeiziger sein?

Fakt ist, wenn Klimaziele eingehalten werden sollen, dann haben wir nur noch ein begrenztes CO?-Budget zur Verfügung. Es wird nicht klappen, das Problem immer weiter weg­zuschieben und darauf zu hoffen, dass sich nach 2020 alles durch Technologien selbst regelt. Das muss man auch der Politik immer wieder erklären: Alles, was wir bereits emittiert haben und noch emittieren, geht in dieses Budget ein. Es ist am Ende das Integral aller Emissionen, das zählt. Einmal emittiert, bleibt Kohlendioxid lange Zeit in der Ökosphäre. Es geht also auch um den Pfad, den wir wählen, um das Ziel zu erreichen. Das spiegelt sich im aktuellen Entwurf des Klimaschutzplans im Augenblick noch nicht wider.

Aber der Klimaschutzplan war ja auch im Bundeskanzleramt. Und da sitzt Angela ­Merkel, die Sie gut kennen; die auch Physi­kerin ist; die das Problem doch versteht.
Sie hat es auch verstanden.

Warum streicht sie dann wesentliche Teile des Klimaschutzplans?
Die Bundeskanzlerin hat das Problem nicht nur verstanden, sie hat auch den Ehrgeiz, dass etwas aus dem Klimaschutzplan wird. Wenn überhaupt, dann wird es mit ihrer Hilfe gelingen, noch einmal bessere und konkretere Zahlen hinzuzufügen. Angela Merkel ist aus meiner Sicht eine der proaktiv Handelnden in diesem Bereich. Es ist wohl eher mancher Beamte in der Ministerialbürokratie oder auch mancher ganz normale Abgeordnete, der die Dringlichkeit und die Dimen­sion des Problems noch nicht sieht oder nicht sehen möchte.

Was haben wir für Abgeordnete?!
Viele haben allzuviel auf dem Tisch, und der Klimawandel ist ein komplexes Thema. Zudem hat der Durchschnittswähler zunächst andere Sorgen als den Klimawandel, weil er nicht sieht, wie sehr ihn dieser betrifft. Gleichzeitig gibt es aber natürlich einige Gruppen, die das Thema sehr genau verstehen – nämlich die Lobbyisten. Und genau deswegen versuchen manche Interessensverbände, die Problematik zu vernebeln. Man darf einfach nicht vergessen, wie stark die Wirtschaftsverbände sind, wie stark die Wirtschaftsflügel in der Union und auch die Gewerkschaften in der SPD sind. Hier dominieren leider manchmal – nicht immer! – kurzfristige Klientelinteressen das langfristige Allgemeinwohl. Die Lobbyisten sind enorm einflussreich, wenn ein solcher Aktionsplan geschliffen wird. Das ist doch klar – wenn ich von der jetzigen Wirtschaftsweise profitiere, dann möchte ich natürlich, dass alles so bleibt, wie es ist. Dass diese Gruppen nach Paris und dem, was das Paris-Abkommen bedeutet, jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, war zu erwarten. Und es war auch zu erwarten, dass das ursprünglich vom Umweltministerium vorgeschlagene Klimaschutzgesetz nicht einfach durchgewunken wird.

Aber es muss ja auch Politiker geben, die auf diese Lobby­isten hören. Wer sind denn da die wichtigsten Drahtzieher?
Schauen Sie, wenn ein Politiker zum Beispiel in einem Landkreis gewählt wird, wo Braunkohle abgebaut wird, dann wird er nicht gegen seine Wählerschaft auftreten. Das habe ich schon oft aus der Politik gehört: Wenn ich Arbeitsplätze in dieser Region erhalten kann, dann ist mir das wichtiger als der mögliche Schaden für das Klima. Die parlamentarische Demokratie, die Wahlkreisrepräsentanten nominiert und ins Parlament schickt, hat es quasi als innere Logik eingebaut, dass kurzfristige und naheliegende Interessen den längerfristigen und globalen Interessen überlegen sind.

Wir werden sehen, was jetzt mit dem Klimaschutzplan passiert. Die Industrieverbände sagen sich, das Ganze ist ein Tauziehen. Die Umweltverbände fordern ihrer Meinung nach zu viel, das könne die Wirtschaft gar nicht verkraften und der Konsument wolle das nicht. Dann fordern sie also weniger Ehrgeiz. Und dann kommt in der Mitte ein Kompro­miss heraus. Das kennt man ja. Dass dabei das Schicksal des Planeten auf dem Spiel steht und unsere Zivilisation, ist fast nebensächlich, weil man einfach eingerastet ist in dieses Spiel.

Zurück zu Angela Merkel. Sie positioniert sich ja ganz klar zu den Flüchtlingen. Flüchtlinge und Klimawandel unabhängig voneinander zu betrachten, ist doch eigentlich unangebracht; beides gehört ja zusammen, wenn man sich vorstellt, wie viel mehr Millionen von Flüchtlingen wir bekommen werden. Wenn sich Angela Merkel sowieso schon unbeliebt macht, warum nimmt sie dann den Klimawandel nicht gleich oben drauf?
Frau Merkel kann für Klimaschutzmaßnahmen eintreten. Aber am Schluss muss es auch einen Beschluss im Kabinett dazu geben, der dann auch ins Parlament getragen werden kann. Dafür muss eine Mehrheit bestehen, die im Augenblick nicht ohne weiteres zu sehen ist. Wenn Frau Merkel zum Beispiel eine Kohlekommission einsetzen wollen würde, dann ginge das letztendlich nur, wenn alle Parteien, alle Fraktionen das mitunterstützen. Sonst wird die Kommission scheitern oder ihre Empfehlungen werden einfach ignoriert. Es gibt das Parteienspiel, das Verbändespiel, das Zeitspiel zwischen den Wahlen. Wenn man in den Maschinenraum hineinschaut, in dem Realpolitik betrieben wird, dann wird schnell offensichtlich, wie unendlich mühsam jede Entscheidung ist.

Die Flüchtlingskrise ist natürlich ein Thema, mit dem jetzt Stimmung gegen die Bundeskanzlerin gemacht wird. Aber das Thema ist hier fast nebensächlich, das ist ein Überdruss­phänomen. Deutschland geht es besser als seit langem und trotzdem gibt es Stimmen, die fordern: „Merkel muss weg!" Gerade weil die Bundeskanzlerin bislang so unangreifbar schien, ist der Reiz groß, sie ins Stolpern zu bringen. Natürlich ist die Flüchtlingskrise zu lösen, das „Wir schaffen das!" war berechtigt. Die Flüchtlingszahlen gehen längst runter. Und selbst wenn noch einmal eine Million käme, könnte unsere Gesellschaft, reich wie sie ist, das verkraften.

Aber klar, das ist auch eine große Herausforderung. Und erst recht ist die Umsetzung von Paris eine immense Heraus­forderung. Das Paris-Abkommen in die Realität zu überführen, das würde bedeuten, dass die deutsche Autoindustrie den Verbrennungsmotor bis etwa 2025 ausmustern müsste, dass die Zementindustrie sich komplett wandeln müsste, dass die industrielle Landwirtschaft von Grund auf reformiert werden müsste, dass die Kohleförderung allerspätestens 2030 beendet werden müsste, und vieles mehr. Stellen Sie sich das einmal vor! Dagegen ist die Flüchtlingskrise derzeit ein laues Lüftchen. Das könnte sich allerdings ändern, wenn die Folgen des Klimawandels greifbarer werden und bestehende Probleme noch verstärkt werden. Dann werden wir vielleicht auch eine Flüchtlingskrise nicht mehr bewältigen können.

Für die Industrie ist es am Ende egal, ob syrische Flüchtlinge kommen oder nicht. Manche Ökonomen sagen sogar, die Flüchtlinge werden das Wirtschaftswachstum erhöhen. Vor nur wenigen Jahren hieß es ja auch, dass Deutschland vergreist und die Bevölkerungszahl schrumpft. Jetzt wächst Deutschland wieder. Aber auch das ist nicht allen recht. Die Flüchtlingsthematik mag ein willkommener Anlass sein, die Bundeskanzlerin anzugreifen, aber sicher nicht der Grund. Das erinnert mich ein wenig an Winston Churchill. Er hatte den Krieg gewonnen und sofort nach Kriegsende wurde er aus dem Amt gewählt. Das muss man sich mal vorstellen! Und jetzt gilt er in Großbritannien als einer der größten Staatsmänner aller Zeiten.

Sie meinten vorhin, die Abgeordneten hätten das alles gar nicht richtig verstanden. Das kann ich gar nicht glauben. Die Faktenlage ist doch so eindeutig!
Wenn ich irgendwo einen Vortrag halte, dann kommen fast immer danach Leute zu mir und sagen: „Das haben wir ja gar nicht gewusst. So haben wir das noch nie gehört. Das ist ja wirklich besorgniserregend!" Die meisten Menschen kennen nur die Schlagzeilen. Aber mit einem Artikel über den Klimawandel, in dem wirklich die Zusammenhänge erklärt werden und noch einmal auf die Dringlichkeit hingewiesen wird, da locken Sie derzeit kaum einen Hund hinter dem Ofen vor. Denken Sie an Kopenhagen im Jahr 2009, da gab es im Vorfeld unheimlich viele TV-Talkshows zum Thema Klima. Vor dem Klimagipfel in Paris gab es – nichts. In den Qualitätszeitungen war das Thema natürlich präsent, aber nicht im Massenmedium Fernsehen. Am Tag der Verabschiedung des Pariser Abkommens gab es natürlich in der Tagesschau einen Bericht dazu. Aber den Diskurs beherrschten andere Themen.

Was wären denn die wichtigsten Wege, um das Thema wieder obenan zu bringen?
Es gibt einen globalen Rekordhitzemonat nach dem anderen, die Klimakrise ist mittlerweile offensichtlich. Die Erwärmung wirkt sich auf verschiedenste Bereiche aus: von den ersten Inselatollen, die dem Meeresspiegelanstieg weichen müssen, bis hin zu aussterbenden Arten. Dieser Druck der sichtbaren Klimafolgen wird sich immer weiter erhöhen, so traurig das ist. Und darüber werden die Medien auch berichten. Gleichzeitig geht es aber auch nicht nur darum, öffentliches Interesse zu wecken. Vielmehr sollte man jetzt mit den verantwortungsvollen, lernfähigen Entscheidungsträgern hartnäckig und kontinuierlich zusammenarbeiten.

Das ist ja fast eine Erleichterung. Denn die ganze Welt überzeugen zu müssen, ist ja eine schier unmögliche Aufgabe.
Und das ist vielleicht auch gar nicht notwendig. Es gibt das berühmte Pareto-Prinzip, in dem die Rede ist von „the vital few": Etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung könnten demnach schon ausreichen, um große Änderungen erfolgreich anzustoßen.

Meine Erfahrung ist aber auch, dass man dieselben Wahrheiten immer und immer wieder vorbringen muss. Einfache und klare Wahrheiten. Und man muss nach und nach Menschen finden, die bereit sind, entsprechend zu handeln. Ohne zu erwarten, dass es gelingt; ohne zu erwarten, dass es schnell geht. Aber diese kleinen und realen Chancen muss man ergreifen. Es sinken durchaus bestimmte Einsichten ein, oft auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Und wenn man Glück hat, hat man an der Spitze der Regierung auch noch jemanden, der das versteht.

Die Weltwirtschaft ist schon ganz ohne Klimaschutz ins Stocken geraten und stagniert derzeit – abgesehen von einigen wenigen Ländern. Auch in Deutschland wird das Wachstum nicht immer weitergehen. Die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise würde nicht nur unsere Lebensgrundlagen schützen, sondern wahrscheinlich auch eine neue industrielle Revolution hervorbringen. Und das ginge viel weiter als nur zu selbstfahrenden Autos, auf die gerade alle ganz begeistert warten.

Letzten Endes ist die „Große Transformation" eine riesige Chance, ein neues Projekt der Moderne zu definieren. Und das brauchen wir alle dringend. Der Zuspruch für Parteien wie die AfD, die Stimmung machen gegen Merkel mit Parolen gegen Zuwanderer und Flüchtlinge, entsteht auch, weil die Leute die Welt nicht mehr verstehen. Die Welt ist zu komplex geworden, daher suchen sie nach einfachen Erklärungen. Und der Zuspruch entsteht auch, weil viele Menschen offenbar keine Perspektive für sich sehen. Es geht den allermeisten zwar ziemlich gut in Deutschland. Doch es gibt für viele kaum etwas, wofür sie sich richtig einsetzen können oder wollen. Also ist manchmal der einzige Unterhaltungswert, den man noch findet, Bösartigkeit und Hass und Fremdenfeindlichkeit. Auch das ist aus meiner Sicht ein Wohlstandsphänomen.

Wenn die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise aber als gemeinsame große Vision der Moderne ge­sehen würde, dann könnten wir sehr viel erreichen. Schauen Sie auf Roosevelt und die 30er Jahre – mit dem New Deal hat er es geschafft, dass der Faschismus in Amerika nicht Fuß fassen konnte.

Was genau hatte er gemacht?
Dazu hat er eine ganze Reihe von Sozialreformen angestoßen, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, den Aufbau von Institu­tionen. Der New Deal war eine geniale Sache. Wir müssten quasi die Transformation als einen New Deal darstellen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob das gelingen könnte. Aber das scheint mir eine interessante Möglichkeit. Denn es gilt einerseits, den Untergang der Zivilisation, so wie wir sie kennen, zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist Klimaschutz nicht eine Belastung für die jetzigen Wirtschaftsformen, sondern eine riesige Chance.

Wir bräuchten also viel mehr positive Visionen?
Positive Visionen sind natürlich wichtig. Und die Erkenntnis, dass dadurch nicht massenhaft Arbeitsplätze wegfallen werden. Ver.di hat sich jetzt sogar für den Kohleausstieg stark gemacht. Es wurde eine Studie in Auftrag gegeben, wie viele Arbeitsplätze in der deutschen Kohleindustrie wegfallen würden – das sind 8900! 8900, das sind ein oder zwei größere mittelständische Betriebe.

Und allein 30.000 Angestellte gibt es in der deutschen Solarindustrie!
Vermutlich sogar noch mehr. Wenn Deutschland für diese 8.900 Arbeitsplätze seinen Klimaschutzplan opfern würde, das wäre absurd. Es muss klar sein: Wenn ich in zukunftsträchtige Technologien einsteige, dann kann man viel mehr qualifizierte Arbeitsplätze schaffen, als es sie in der fossilen Industrie gibt. Es ist einfach ein Witz, über welche Marginalien wir reden, um ein „Weiter so!" zu begründen. Viele Menschen haben jedoch Angst vor Veränderungen. Aber gerade die Veränderung kann ja auch ein aufregendes Projekt sein.

Es gibt in den USA eine Bewegung, die heißt „Climate Mobilization". Sie vergleicht das, was wir brauchen, mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, als die USA fast ihre gesamte Industrie auf Rüstungsindustrie umgestellt hat.
Dazu gibt es ein Buch, für das ich auch das Vorwort geschrieben habe: „Strategies for Rapid Climate Mitigation. Wartime mobilisation as a model for action?” von Laurence Delina.

Warum wird die Möglichkeit von Klimaschutzmaßnahmen nicht in einer solchen Weise kommuniziert?
Eine Klimamobilisierung ist keine realistische Variante, zumal sie auch gar nicht notwendig ist. Die Transformation in eine nachhaltige Wirtschaftsweise bedeutet natürlich eine enorme Umstellung. Aber in Kriegszeiten hatten die Investitionen noch einmal eine ganz andere Größenordnung. Deutschland und England haben während des Zweiten Weltkrieges in gewissen Phasen 70 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes für die Waffenproduktion ausgegeben! Und dann gab es natürlich das Gefühl einer existentiellen Bedrohung. Das kann man heute nicht als Maßstab nehmen.

Stattdessen wäre es sicher zielführender, von einem neuen Projekt der Moderne zu sprechen. Dieses Projekt könnte von Europa angeführt werden im Sinne eines globalen Moderni­sierungswettbewerbs. Da sollte eigentlich jeder der erste sein wollen. Ich glaube, dass man die Doppelchance des Klima­schutzes einfach noch nicht erkannt hat: dass man damit die Lebensgrundlagen bewahrt, dass man aber auch eine unheimlich spannende, ökonomische, technische und soziale Herausforderung hat, für die es sich lohnt sich einzusetzen.

Wenn man die Möglichkeit hat, Vorreiter zu sein, hat das doch unglaubliche Vorteile. Man muss natürlich ­investieren, aber die Investitionen bekommt man doch sicherlich zu Hauf zurück, oder?
Die großen institutionellen Investoren, wie etwa die Allianz oder Axa, die können und wollen und werden das auch tun. Aber wenn ich nun mal Dieselmotoren produziere, dann will ich die auch weiterverkaufen.

Aber die meisten Arbeiter, egal in welcher Chefetage, haben doch auch Kinder!
In der Lausitz wird derzeit bejubelt, dass ein tschechischer Investor die Vattenfall-Anlagen aufgekauft hat. Warum? Weil sie glauben, wenn sich kein Investor für das Braunkohlerevier findet, dann stände die Produktion sofort still. Dass dieser Investor die Leute wahrscheinlich in ein paar Jahren entlassen wird, weil dann Braunkohle ganz unrentabel wird, das bedenken sie nicht – Hauptsache nicht heute. Und über die Kinder denken sie schon gar nicht nach. Es geht nur um die panische Vorstellung „morgen wird das Fabriktor geschlossen!".

Seit 1989 gingen im Osten Deutschlands 90 Prozent der Arbeitsplätze in der Kohleförderung verloren – durch den ganz normalen Kapitalismus, aber das wollen die Leute nicht wahrhaben. Aber sie glauben, dass der Klimaschutz schuld daran ist, dass auch die letzten verloren gehen – da hat man einen Feind. Dass der Markt sich auf Arbeitsplätze auswirkt, das ist dagegen in Ordnung. Das wird quasi als Naturgesetz wahrgenommen. Klimaschutz dagegen wird als ein Akt von böswilligen Aktivisten eingestuft, die ihnen ihre Existenz wegnehmen wollen. Das ist in höchstem Maße irrational. Aber wenn ich jetzt in die Lausitz gehen würde und einen Vortrag halten würde und das Wort Kohleausstieg verwende ...

… dann hätten Sie einen Platten im Auto.
Vielleicht. Die Leute haben einfach Angst, dass ihr Arbeitsplatz JETZT verschwindet.

Ja, aber dann muss man ihnen halt eine Perspektive geben!
Genau darum geht es. Man sollte den Kohleausstieg natürlich vorantreiben. Gleichzeitig braucht es aber auch einen Plan für diese Veränderungen. In der Lausitz müssten also auch finanzielle Mittel freigemacht werden, um die betroffenen Menschen auf einen neuen Pfad zu bringen.

Welche Rolle kann und muss denn die Wirtschaft haben, um die Emissionsreduzierung voranzubringen? Und wie kann man sie dazu bewegen?
Roosevelt hatte im New Deal von der Wirtschaft einen gewissen Beitrag verlangt. Rockefeller hatte damals dazu gesagt: „Ich bin gerne bereit, die Hälfte meines Vermögens zu opfern, wenn ich damit die andere Hälfte retten kann." Glücklicherweise sind wir aber gar nicht in so einer Situation. Ich glaube, dass es für die Wirtschaft – wenn sie sich aus ihrem verkrusteten Denken lösen kann – eine unglaubliche Chance ist, neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Die Wirtschaft könnte erkennen, dass der Klimaschutz das größte Beschäftigungsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Es ist ja klar, dass nach vollkommener Zerstörung ein schnelles Wachstum erfolgt. Aber wir wollen bitte nicht wieder einen Krieg, der so ein Wachstum ermöglicht! In Friedenszeiten könnte die Große Transformation das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten sein.

Glauben Sie, dass man das über einen CO2-Preis noch effektiver voranbringen kann?
Der CO2-Preis würde das sicherlich befördern. Aber ich glaube, noch wichtiger ist, dass die Leute bereit sind, in Zukunftsfelder zu investieren. Da spielt es eine größere Rolle, dass man sich traut zu sagen: „Ja, darauf setze ich; das ist die Zukunft!" So wie es die Leute in der Industriellen Revolution getan haben.

Es ist schon seltsam, dass die Möglichkeit, an einer so faszinierenden Sache wie der Transformation teilhaben zu können, nicht begeisterter aufgenommen wird.
Wir müssen die Begeisterung wecken für neue Projekte, und neue Projekte haben natürlich auch Risiken. Aber das ist vielleicht sogar gut. Die meisten Menschen sind unheimlich eingefahren darin, was sie tun und denken. Selbst der Nervenkitzel ist schon fast routiniert, wie beim Bungee Jumping oder Paragliding. Man könnte stattdessen auch sagen: „Ok, jetzt mach ich mal eine Batteriefabrik auf!"

Wie in dem Film „Power to Change". Da werden Leute dargestellt, die sagen: „Ich mache das!"
Ähnliche Initiativen gibt es bereits. Ich bin zum Beispiel auch Vorsitzender von Climate-KIC – einem großen, europäischen Netzwerk, das Innovationen im Klimaschutz voranbringt. Wir haben schon einige hundert Start-Ups auf den Weg gebracht, einige sind bereits geschäftsfähig geworden. Es gibt sie also, diese wilden jungen Kreativen.

Hoffen wir, dass es noch viel mehr werden, damit wir noch rechtzeitig die Transformation schaffen! Herr Schellnhuber, wir danken für das Gespräch.

Das Gespräch führte forum Redakteurin Dr. Maiken Winter, Vorsitzende von WissenLeben e.V.
 

Umwelt | Klima, 02.11.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2016 - Klima, Krieg und gute Taten erschienen.
     
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